„Quäl dich, du Sau!“

Wie Lance Armstrong nicht nur mit Muskelkraft, sondern auch mit Medienkompetenz die Tour de France gewinnt

„Quäl dich, du Sau“, lautete vor Jahren der mundartlich deftige Spruch, mit dem der Radrennfahrer Udo Bölts seinen Kapitän vom Team Deutsche Telekom, Jan Ullrich, während eines Rennens einen giftigen Berganstieg herauftreiben wollte. Das war eine klare verbale Botschaft, die aber leider ihre Wirkung verfehlte. Ullrich verlor die Etappe. Aus aktuellem Anlass soll ein kurzer Blick auf die gerade in Frankreich stattfindende Tour de France 2001 geworfen werden. Denn hier wird offenbar, wie geschickt eingesetzte nonverbale Kommunikation beträchtliche Vorteile verschaffen kann. Wer dieses Mittel bis zur Perfektion beherrscht, ist der amerikanische Radprofi Lance Armstrong.

Er, der Tour-Sieger des Jahres 2000, und der im letzten Jahr Zweitplatzierte Jan Ullrich werden allgemein als die beiden Top-Favoriten auf den Gesamtsieg eingeschätzt. Und wirft man nur einen Blick in die Sportberichterstattung der vergangenen Monate, sieht man, dass die Medien die aktuelle Tour zum Duell des amerikanischen Perfektionisten und des deutschen Profifahrers stilisiert haben.

Wer aufmerksam verfolgt hat, wie sich die Rennfahrer am Dienstag vor einer Woche auf der 10. Etappe über die ersten anstrengenden Berge der Tour de France 2001 quälten, der hatte Gelegenheit, Armstrong virtuos auf dem Medienklavier spielen zu sehen. Ein nur 950 Meter hoher Anstieg wurde als angenehmer Appetizer gewertet. Die schwersten Prüfungen auf der 209 Kilometer langen Fahrt durch die Savoier Alpen waren zweifellos der 2.000 Meter hohe Col de la Madeleine und der 1.924 Meter hohe Col du Glandon. Zum Schluss wartete der Zielstrich in dem 1.850 Meter hoch gelegenen Ort Alpe d’Huez .

Wie üblich hatte jedes Team eine Taktik für den Tag ausgegeben, und die lautete bei Ullrichs Mannschaft: vorne fahren und das Tempo hoch halten, damit keiner der Favoriten ausreißen kann. Das live übertragene Spektakel lieferte über Stunden beeindruckende Fernsehbilder: Bis zu sechs seiner Helfer ließ Ullrich an der Spitze des Feldes Stärke demonstrieren, und die Führungsgruppe in seinem Rücken wurde immer kleiner. An ihrem Ende mühte sich Lance Armstrong ganz offensichtlich, erst noch mit zwei, dann mit nur noch einem Fahrer seiner Mannschaft, der als Helfer für jeden der Favoriten so wichtig ist. Über die TV-Schirme flimmerten Bilder von Armstrongs angestrengter Grimasse – und wie er aus dem Sattel ging, um nach kleinem Rückstand wieder Anschluss an die jagende Gruppe unter Ullrichs Führung zu finden.

Die Fernsehbilder machten es augenscheinlich, und die Kommentatoren öffentlicher und privater Sender sprachen es aus: Der Amerikaner Lance Armstrong ist in Schwierigkeiten. Die Rechnung von Ullrichs Team schien aufzugehen. Alles deutete darauf hin, dass der angeschlagene Amerikaner spätestens am letzten steilen Berg zum Etappenziel in Alpe d’Huez weit zurückfallen würde. Ullrich hätte dann viel Zeit auf ihn gewonnen und vielleicht eine Vorentscheidung in der bedeutenden Rundfahrt herbeigeführt.

Doch Armstrong nutzte geschickt die Präsenz der Kameras und rechnete mit der richtigen Interpretation seiner nonverbalen Botschaft. Er spielte nur den Leidenden und erläuterte später in voller Zufriedenheit seinen perfekten Bluff: „Heute haben doch alle sportlichen Leiter Fernsehen im Auto und beobachten die Gesichter: Geht es ihm gut, geht es ihm schlecht? Deshalb habe ich entschieden, dass es besser wäre, wenn Telekom weiter arbeitet und ich ein bisschen leide“.

Zu Beginn des abschließenden, 13 Kilometer langen Anstiegs ließ sich Armstrong von seinem letzten Helfer an die Spitze des Feldes fahren. Dort drehte er sich kurz um und blickte Jan Ullrich direkt und wortlos in die Augen, um dessen Zustand zu taxieren. Dann trat der Amerikaner dermaßen kraftvoll an, dass keiner ihm folgen konnte.

Diese knappe Analyse kann nur zu einem Urteil führen: Die Rechnung von Team Telekom für die 10. Etappe der diesjährigen Tour war nicht aufgegangen, aber die nonverbale, mit den Medien spielende Kommunikation des Amerikaners hatte perfekt funktioniert. Am Ende des als „Königsetappe“ bezeichneten 10. Teilstücks der Tour de France 2001 konnte Lance Armstrong nach der gespielten Leidensmiene eine weitere nonverbale Botschaft über die Bildschirme senden: die martialische Siegerpose der gehobenen, sehnigen Arme mit geballten Fäusten und trotzigem Blick. GÖTZ J. PFEIFFER