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zoologie der sportlerartenPROF. HIRSCH-WURZ über den Sprinter

Hängezunge und Besenstiel

In dem hübschen Spielfilm „Am Anfang war das Feuer“ hat der Regisseur Jean-Jacques Annaud sehr schön deutlich gemacht, worin die Vorzüge schneller Beine bei unseren urzeitlichen Vorfahren bestanden: Man hatte eine bessere Chance, sich vor ebenso gefräßigen wie säbelzahnigen Großkätzchen auf einsam in der Savanne stehende Bäumlein zu flüchten. In seinem jüngsten Stalingrad-Machwerk, „Enemy at the Gates“, wusste derselbe Regisseur zu illustrieren, warum die Fähigkeit zur hurtigen Fortbewegung heutzutage nur noch im Sport von Nutzen ist. Die Erfindung der Gewehrkugel hat den Homo velocicus zum Auslaufmodell, im wahrsten Sinne des Wortes, degradiert.

Anstatt durch talentiertes Fluchtverhalten den Fortbestand seiner Art zu sichern, taugt der Sprinter der Gegenwart nur noch dazu, seinen eigenen Fortbestand zu gewährleisten. Die rasantesten Vertreter der Spezies kassieren teilweise sechsstellige Dollarsummen für ihre öffentlichen Auftritte – oder fordern sie zumindest. Frühere Exemplare des Homo velocicus, die praktisch gratis über die Aschenbahnen ihrer Zeit fegten, finden diese Entwicklung ziemlich empörend, das allerdings vollkommen zu Unrecht. Schließlich taten sie damals nichts andres, als schnell zu flitzen, während zum heutigen Dasein des Homo velocicus viel mehr gehört. Zum Beispiel muss er die Kunst beherrschen, seine Zunge im Ziel bis zum Bauchnabel heraushängen zu lassen, damit die Fotografen hübsche Bilder schießen können. Aus dem gleichen Grund benötigt er immense Bizeps, die er nach vollendetem Weltrekord den Zuschauern und unterlegenen Gegnern unter die Nase wölben kann. Darüber hinaus muss er das elegante Schwingen seiner Nationalflagge beherrschen und etliche andere Tricks, die man so mit einem bunten Stück Tuch vollführen kann. Und er braucht ein freches Maul. Sonst hätten ja die Journalisten nichts zu schreiben. Weil der Lauf selbst nicht mal zehn Sekunden dauert, müssen die Wortgefechte zuvor mindestens zehn Tage dauern. Handelt es sich um einen weiblichen Homo velocicus, muss er sich sogar mit fetten Kugelstoßern abgeben und darf sich erst scheiden lassen, wenn nachgewiesen ist, dass die Körpermasse gar nicht auf natürliche Art zustande gekommen ist.

In jedem Fall ist der Homo velocicus das personifizierte Enfant terrible der leichten Athletik, was schon Armin Hary vollauf beherzigte. Der war nicht nur der letzte Deutsche, der die 100 Meter in nennenswertem Tempo zurückzulegen vermochte, sondern auch der erste Sportler, der die Gottähnlichkeit der bundesdeutschen Sportfunktionäre dezent in Frage stellte und dafür prompt gesperrt wurde. Legendär waren seine Blitzstarts. Würde Weltrekordler Maurice Greene diese beherrschen, hätte er den Weltrekord längst halbiert, und die Frage, ob Wachstumshormone eigentlich lange Zungen, dicke Bizeps und große Geldgier verursachen, würde noch intensiver diskutiert. Armin Hary stellte später übrigens auch die Gottähnlichkeit der Kirche in Frage und haute sie bei einem Grundstücksdeal gehörig übers Ohr.

Der Homo velocicus gehörte stets zu den exponiertesten Vertretern des Sportlebens und stand daher auch mehr als andere im Blickpunkt der Öffentlichkeit. 1936 zum Beispiel hätte manch einer der Nazi-Schergen Jesse Owens liebend gern in bester „Enemy at the Gates“-Manier aus dem olympischen Wettbewerb befördert. 1968 verursachten die spikesbewehrten Black-Power-Aktivisten Funktionären und Politikern Albträume, bevor dann jene muskelboldigen Ausprägungen des Homo velocicus auf den Plan traten, die dem urzeitlichen Säbelzahntiger nicht davongerannt wären, sondern ihm kurzerhand das Genick gebrochen hätten. Zum Beispiel die ostdeutschen Tartan-Stachanowas um Stecher und Göhr sowie Ben Johnsons Anabolika-Bande, die ihren Widerpart im soften und feingliedrigen Carl Lewis fanden, der den Stöckelschuh in die Leichtathletik einführte und längere Reden halten konnte als Fidel Castro.

Eine ausgeprägte Sonderform des Homo velocicus stellt der Homo besenstielis dar, der die 400-m-Strecke besprintet, aber neuerdings vom Aussterben bedroht ist. Dies ganz ohne Zutun von Jean-Jacques Annaud.

Wissenschaftliche Mitarbeit:

MATTI LIESKE

Fotohinweis: Holger Hirsch-Wurz, 50, ist ordentlicher Professor für Humanzoologie am Institut für Bewegungsexzentrik in Göttingen.

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