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bücher für randgruppenErfahrungen an der Seite „imperfekter Menschen“

Kanzler Bobby

Mit einer Plastiktüte bewaffnet, in der sich ein nachgebautes und mit Eiderdaunen gefülltes Zwergenbett sowie eine Blaumeisenlockpfeife befanden, nahm ich vor einigen Jahren als Gastredner bei Christoph Schlingensiefs Wahlkampfzirkus „Chance 2000“ teil. Statt der Demonstrationsobjekte zeigte ich dann aber lieber einen Mitschnitt aus der Talkshow „Vera am Mittag“, in der ich einst gemeinsam mit dem Medium Ogar Grafe als Elfenspezialist geladen war. Christoph huschte mit einer zerrupften Indianerperücke und bedeckt mit einem dünnen Trägerkleidchen heran und führte mich auf das Podium. Bevor im Videobild nach heftigen verbalen Attacken einer Hausfrau aus Neukölln: „Tickt bei Ihnen noch alles richtig?“ Ogar auftauchte und den Satz sprach: „Ich kann doch nichts dafür, ich sehe sie (die Elfen) nun mal“, gab Commander Schlingensief über Kopfmikro die Weisung, das Filmbild auszublenden.

Aus dem Dunkel tönte also Ogars Stimme: “. . . ich sehe sie nun mal.“ Und da saß ich also auf dem Podium, direkt neben Akteur Hans, der mit seinem massigen Körper einen kleinen Holzstuhl besetzt hatte. Ganz entspannt saß er da, zurückgelehnt, mit offenem Mund – und schnarchte! Ja, einer der Hauptakteure schlief während der Vorstellung auf der Bühne. Das war nicht gespielt, das war echt.

Gelegentlich wird Schlingensief der Vorwurf gemacht, dass er seine behinderten Mitspieler ausnutze. Denn diese Natürlichkeit und Schamlosigkeit sind mit einem professionellen Akteur aus der Schauspielschule natürlich unmöglich zu realisieren. Wer aber die von Wohlmeinenden präventiv in Schutz Genommenen selbst fragt, hört eigentlich immer, dass es ihnen offensichtlich großen Spaß macht, bei Schlingensief mitzuspielen.

Seitdem es also nicht mehr von vornherein als moralisch bedenklich gilt, einem behinderten oder, wie es das Dresdener Hygienemuseum in seiner aktuellen Ausstellung titelt, einem „(im)perfekten Menschen“ auch Hauptrollen zuzutrauen, sind zahlreiche spannende Projekte entstanden.

Kürzlich war so ein Hauptakteur, nämlich der überaus charmante Bobby Brederlow im Hygienemuseum zu Gast. Er kam mit dem Downsyndrom zur Welt und ist Bruder des Schauspielers Gerd Brederlow. Bekannt wurde er als Hauptdarsteller in der Produktion „Liebe und weitere Katastrophen“, einem Vierteiler, in dem Senta Berger seine Mutter spielte. Für seine darstellerische Leistung wurde ihm 1999 ein Goldener Bambi verliehen.

Nun saß er also im Hygienemuseum und las aus dem Buch „Verkürzte Kindheit“. Satz für Satz, sorgfältig und konzentriert. Nicht einen Text von ihm, sondern etwas über sich. Geschrieben von seinem Bruder. Denn dieses Buch ist wohl das erste Buch, in welchem die „gesunden“ Geschwister behinderter Kinder über ihr Leben, ihre Erfahrungen, ihr Aufwachsen an der Seite ihres Bruders oder ihrer Schwester sprechen.

Die Autorin und Herausgeberin Heike Neumann zeichnet sorgfältig deren Protokolle auf. Diese spannen einen Bogen von der Generation der Nachkriegsjahre, als die Ideologie des „unwerten Lebens“ noch in vielen Köpfen steckte, bis in die heutige Zeit. Bobby, der schon lange mit seinem Bruder Gerd und dessen Lebensgefährten Udo zusammenlebt, macht sich so seine ganz eigenen Gedanken. Zu allen möglichen Themen. Den Unterschied zwischen hetero- und homosexuellen Männern kann er beispielsweise nicht wirklich nachvollziehen. Und weil sein Bruder Gerd gerne kocht, bekommt dieser jedes Jahr zum Muttertag ein Geschenk. Denn Mutter ist immer die Person, die kocht!

Ob, wie Heike Neumann glaubt, die Publikationen zu Themen wie zum Beispiel der Verfolgung von Homosexuellen und Juden ins Hunderttausendfache gehen, während die Publikationen zur Ermordung behinderter Menschen ähnlich selten sind wie die von Roma und Sinti, ist allerdings ein ziemlich merkwürdiger Vergleich. Mit Sicherheit hat nicht jeder Schwule, der heute auf dem CSD mitmarschiert, eine Publikation zum Thema verfasst. Es gibt insgesamt sogar relativ wenig Publikationen zum Thema. Aber viel wichtiger ist zu wissen, dass Bobby als Kanzler für einen Tag durchsetzen würde, dass Behinderte im Parlament vertreten sein dürfen. Er schließt damit natürlich ganz klar auch Behinderte mit dem Downsyndrom ein.

WOLFGANG MÜLLER

Heike Neumann: „Verkürzte Kindheit“. Königsfurt Verlag, Krummwisch 2001, 162 Seiten, 29,80 DM

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