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Die Natur-oder-Geist-Frage

Denken und Ficken: In seiner neuen Campusnovel verhandelt David Lodge die Beschaffenheit des menschlichen Bewusstseins. Ein smarter Materialist trifft dabei auf eine attraktive Humanistin

Er hält sie für eine Maschine, die nicht erkennt, dass sie eine Maschine istSie verteidigttapfer die Einzigartigkeit der menschlichen Seele

von EVA BEHRENDT

Im vergangenen Jahrzehnt neigten professionelle Literaturdeuterinnen und -deuter in ihren Fachpublikationen aus gegebenem Anlass nicht unbedingt zu Lesbarkeit, geschweige denn zu unterhaltsamen Tönen. Besonders selten zu beidem zugleich. Deshalb fand man allerdings auch Terry Eagleton so toll, der in seiner Einführung in die Literaturtheorie erstens absolut verständlich, zweitens ausgesprochen pointiert schrieb und dabei drittens zu kleinen Hieben gegen postmoderne Theorien ausholte, was wie eine Absolution erschien, da man den Sinn und Zweck der Letzteren sowieso nie wirklich begriffen hatte.

Eine andere Ausnahme war Erhard Schütz, Literaturprofessor an der Berliner Humboldt-Universität, der eine heilige Kuh wie Thomas Mann zusammen mit David Lodge unter dem Titel „Literaturprofessoren und andere Müßiggänger“ in ein- und demselben Aufsatz verarztete. Wie er darin zwischen persönlichem Lodge-Fantum und konziser Deutung des libidinösen Bleistifttauschs auf dem „Zauberberg“ switchte und dabei die Lektüre als idealen Weltzugang bei gleichzeitiger Weltflucht promotete, das hatte Klasse. Von Schütz animiert las man also Lodge, ahnte die Quelle der Inspiration – und wen wiederum „Bildungs“-Anglist Dieter Schwanitz unermüdlich zu kopieren versucht: den angelsächsischen Semi-Universalintellektuellen und Universitätsdozenten, dessen pragmatischer Zugriff auf Welt und Text meist ein zugleich humoristisch vermittelnder ist. Seine ideale Ausdrucksform ist die Campusnovel, die akademische Problemkomplexe fiktional verhandelt – am Beispiel der Protagonisten, die sich stellvertretend mit dem jeweiligen Sujet herumschlagen oder am besten gleich Theorien am eigenen Leib erfahren müssen. Die Universität dient dabei als von der Gesellschaft isolierter, gleichwohl für sie exemplarischer Handlungsraum, eine Art säkularisiertes Kloster, in dem sich die Gedanken immer schön abwechselnd um Sex und ums Denken drehen.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat Lodge, Jahrgang 1935, ziemlich viele solcher Campusromane geschrieben; die meisten avancierten zu Bestsellern. Zuletzt vergingen allerdings fünf Jahre, bis Lodge mit einer 500-Seiten-Schwarte sein Comeback auf dem Campusnovel-Markt feierte. „Denkt“ (Thinks) heißt das Opus, das Martin Ruf aus dem Englischen übersetzt hat, und „Denkt“ meint schlicht Verb vor Doppelpunkt: Inhalt (noch) unbekannt.

„Denkt“ verwandelt ein großes Thema – den erkenntnistheoretischen Streit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften um Existenz und Beschaffenheit des menschlichen Bewusstseins – erzählerisch in einen überschaubaren Plot: Ralph Messenger, Charmebolzen und erfolgreicher Kognitionswissenschaftler, trifft an der Universität von Gloucester auf Helen Reed, attraktive Intellektuelle und erfolgreiche Schriftstellerin. Messenger verkörpert den smarten Materialisten mit windschnittiger Lieblingsthese: „Sie sind eine Maschine, die von unserer Kultur darauf programmiert wurde, nicht zu erkennen, dass sie eine Maschine ist.“ Sein unerschütterlicher Glaube an die Aufklärung, an Mess- und Analysierbarkeit sämtlicher Vorgänge und Phänomene erstreckt sich folgerichtig auch auf seine sexuellen Überzeugungen: Dass der glücklich verheiratete Messenger im Evolutionsauftrag alles „ficken“ will, was „Titten“ hat, versteht sich quasi von selbst.

Helen Reed indessen ist die Verfasserin eines Romans mit dem unheimlichen Titel: „Das Auge des Sturms“. Sie unterrichtet ein Gastsemester lang kreatives Schreiben und übernimmt den weniger glamourösen Part der differenziert und kritisch denkenden Humanistin, die trotz traumatischer katholischer Vergangenheit tapfer die Einzigartigkeit der menschlichen Seele verteidigt, inklusive der berufsbedingten Annahme, dass das Bewusstsein durch nichts so umfassend dokumentiert wurde als durch Sprache, also Literatur. – Ein kreativ geschriebenes Geschlechterstereotyp? Da Mr. Lodge sich im PC-Diskurs prächtig auskennt, ist das sicher Absicht.

Es kommt, wie’s kommen muss. Reed trifft auf Messenger, beide finden ihr gemeinsames Thema und debattieren heftig, wollen aber doch nur miteinander ins Bett. Messengers Begehren formuliert sich dabei zirka wie oben angedeutet, während Helen Reed erst per Zufall die Untreue ihres toten Gatten und von Messengers Frau Caroline aufdecken muss, um sich nach gut zwei Dritteln des Buches halbwegs frei von Schuldgefühlen auf die lange angekündigte Affäre einlassen zu können.

Der Clou an dieser Seitensprunggeschichte: Lodge erzählt chronologisch aus drei verschieden inszenierten Perspektiven. Die eine gehört Messenger und gibt sich den Anschein von Tonbandprotokollen, die er unermüdlich im streng geheimen Selbstexperiment erstellt. Dazu versucht er, möglichst ungefiltert zu sprechdenken, um der „Struktur des Denkens“ auf die Spur zu kommen – mit dem nicht unkomischen Effekt, dass analytische Geistesblitze dicht gefolgt von nicht ganz unpeinlichen sexuellen Fantasien aus Messengers Hirn herausblubbern. Die zweite ist das hochkonventionell geführte, private Tagebuch von Helen Reed, in dem sie in fast schon persifliert altmodischem Habitus Ereignisse, Reflexionen und emotionale Temperaturschwankungen verzeichnet. Die dritte schließlich funktioniert fast ausschließlich über Dialogrepliken und Regieanweisungen eines allwissenden Erzählers.

Allen drei Perspektiven eignet ein ausgesprochener Mitteilungsdrang, der den Leser zu ersticken droht wie ein zu üppig gefertigtes Plaid im Sommer. Er erfährt zwar nicht alles, aber viel zu viel, und dies doppelt, wenn nicht dreifach: aus dem selbstgefälligen, geschwätzigen Mund von Messenger, aus der episch äußerst breiten, wenn nicht manischen Feder Helen Reeds, die sogar der Zubereitung von Canapés, der Beschreibung diverser Wohnungseinrichtungen, dem Abtippen von Kongressprogrammen Dutzende von Tagebuchseiten widmet. Den dürftigen Rest schließlich entnimmt man den Dialogen, die sich durch die getreuliche Wiedergabe auch von Blabla und Nonsensgesprächen zu authentifizieren versuchen. Für diese Plaudertöne muss man schon einen langen Atem, besser noch große Ferien mitbringen. Entschädigung bieten allerdings Lodges elegante Übersetzungen komplizierter physikalischer, biologischer oder philosophischer Zusammenhänge in angeregten Smalltalk.

Außerdem verknüpft Lodge damit geschickt Form und Inhalt. Die Gespräche von Ralph und Helen kreisen immer wieder um die Frage der Berechenbarkeit und Transparenz von Gedanken, wovon Messenger ausgeht und womit er naturgemäß das Individuum in Zweifel zieht – und um die von Helen postulierte moralische Notwendigkeit ihrer Verschleierung, Verdrängung, Tabuisierung zur Rettung des Individuums und seiner Selbstachtung. Die privaten Aufzeichungen beider Protagonisten lesen sich entsprechend wie brutale Bestätigungen beider Hypothesen. Und bilden die Voraussetzung für die Ironien der Geschichte: Es ist der literarische Text einer Studentin, der Helen über das Doppelleben ihres toten Ehemannes aufklärt, ihr damit zwar eine Illusion raubt, dafür aber die Freiheit eröffnet, mit Messenger zu vögeln. Und der vertrauensbrüchige Messenger erfährt aus dem Tagebuch von Helen, dass auch seine Frau Carrie ihn seit langem betrügt.

Ein literaturwissenschaftliches Lieblingsgefühl stellt sich ein: nämlich das, ein russisches Püppchen auseinander zu nehmen, ohne dass ein Ende abzusehen wäre . . . war da jetzt zuerst die Wahrheit oder das Wort? David Lodge manövriert schließlich Ralph und Helen nicht nur im Kontext des Bewusstseinsstreits in ein optimistisches Patt. Ihre Wege trennen sich, niemand ist ernsthaft verletzt, und die Welt denkt sich weiter so.

David Lodge: „Denkt“. Aus dem Englischen von Martin Ruf. Haffmans Verlag, Zürich 2001, 511 Seiten, 44 DM

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