kurt und juliette. fast eine romanze:
von JOACHIM FRISCH
Kurt ist 40. Er ist kein Kindskopf, der Autogramme sammelt oder stalkt, er guckt keine TV-Formate, und er verabscheut Kommerzkacke à la Hollywood. Kurt verehrt Juliette Binoche, die mit all diesem irdischen Unwesen nichts zu tun hat, weshalb er, der auf- und abgeklärte Mann, ins Schwärmen geraten darf. Juliette ist kein gewöhnlicher Filmstar. Juliette verkörpert Paris, Boheme, Anmut, Existenzialismus, Savoir-vivre, Quartier Latin, Zizou Zidane, natürliche Leichtigkeit, Verheißung vollkommenen Glücks, unerträgliche Sehnsucht. Jedenfalls für Kurt.
Kein Wunder, dass Kurt verdattert war, als ihm dieses Fleisch gewordene Versprechen erschien. Das war beim Bäcker in Hamburg Ottensen, Mittwochmorgen um halb zwölf. Kurts Augen waren trübe vom Schlaf des Gemächlichen, die Sinne vernebelt. Er reihte sich hinter dem schwarzen Pagenkopf in die Schlange ein und ließ die Lider runter, weil ihn das Pupillenoffenhalten noch anstrengte. Als er die Augen wieder einen Spalt öffnete, um zu sehen, ob sich die Schlange vorgeschoben hatte, traf ihn der Blitz. Juliette Binoche! Der Pagenkopf gehörte Juliette!
Kurz hatte sie den Blick zur Seite gewandt, so dass Kurt das Profil sehen konnte. Ein wohliger Schauer floss ihm über den Rücken. Beim Ottenser Bäcker stand die schönste Frau des Universums mit dem himmlischen Leberfleck auf der rechten Wange, ausgerechnet vor ihm, Kurt, der sie anbetet, so nah, dass er ihren samtenen Nacken hätte küssen können. Ein warmer Blutschwall rauschte durch Leib und Seele, ein Reflex schloss erneut Kurts Augen, aus Angst. Was, wenn es ein Trugbild war, eine Halluzination? Der schöne Traum, die polymorph erotische Sensation im Nu verpufft? Andererseits: Was hätte er davon, mit geschlossenen Augen Juliette Binoche begegnet zu sein? „Ich habe neulich Juliette Binoche beim Bäcker getroffen, leider hatte ich die Augen zu“, hätte Kurt dann erzählen müssen, was ja ziemlich blöd klingen und zu spöttischem Gelächter auf seine Kosten führen würde. Sicherheitshalber genoss er noch mal den Flush des flüchtigen Glücks, um dann mutig die Augen zu öffnen, während die schlotternden Knie ihn fast vors Semmelregal auf die Fliesen warfen.
In diesem Moment erhob Juliette die Stimme: „Zwei Hörnchen.“ Gottogott. „Zwei Hörnchen.“ Sagt man so in Paris? Zum Croissant? Hätte sie wenigstens ein Baguette bestellt! Hörnchen. Kurt stand nun neben ihr. Er sah ihr Gesicht. Es wurde immer länger, das spitze Näschen immer stumpfer, die himmlischen Wangenknochen rutschten runter und wirkten plötzlich plump und gewöhnlich, der Fleck war weg. Juliette? Warum lässt du dich so gehen?, heulte Kurt lautlos, die Seele in Flammen. Das „Wie immer, Frau Rösler-Krüger“ der Bäckersfrau hallte aus einer tiefen Gruft herauf, sein eigenes „Salut, Juliette“, blieb ihm fast im Halse stecken. Den konsternierten Blick der Hörnchenkäuferin nahm er kaum mehr wahr.
Abends hatte sich Kurt erholt, war glücklich und gab einen aus. Immerhin hatte er fast mit Juliette Binoche geplaudert. Ich beneidete ihn.
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