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Heile Kunstwelt Schwanewede

■ Seit fast zwei Jahrzehnten produzieren die SchülerInnen der „Waldschule“ jede Menge Kunst in öffentlichen Räumen. Jetzt ist eine aufwändig gestaltete Dokumentation erschienen

In Schwanewede bei Bremen ist die Welt auf den ersten Blick noch in Ordnung. Während SchülerInnen in allen anderen Schulen zwischen Hamburg und Haiti „No Future“ an die Wände sprühten und über die No-Future-Generation lamentiert wurde, verewigte sich schon 1985 ein unbekannter Sprayer in der Waldschule zu Schwanewede mit dem Slogan „Golden Future“. Immerhin setzte er ein Fragezeichen dahinter. Dieses Graffito ziert noch immer ein Treppenhaus der Kooperativen Gesamtschule (KGS). Allerdings haben andere SchülerInnen ein Wandbild drumherum gemalt. Nach Ansicht von Martin Zülch hat dieser Sprayer prophetische Gaben gehabt: „Die Schüler empfinden ihre Zukunftsaussichten heute viel rosiger als früher“, weiß der Lehrer.

Wenn es Martin Zülch (und seinen ehemaligen Kollegen Hans-Werner Bodensieck) nicht gegeben hätte, wäre das Graffito wohl verschwunden. Der Kunstpädagoge macht das, was engagierte LehrerInnen auch an anderen Schulen machen: Er leitet Kunstkurse oder Arbeitsgemeinschaften und fährt mit ihnen zur Documenta und zu anderen Ausstellungen. Und im Anschluss daran greifen die SchülerInnen selbst zu Pinsel, Fotoapparat oder Videokamera. Doch die Produktion ist nicht nur auf den Kunstraum und die Schulzeit beschränkt. Im Verlauf von mittlerweile 18 Jahren sind während des Unterrichts, an Nachmittagen und zum Teil sogar während der Ferien Dutzende von Wandbildern, Installationen und Ausstellungen entstanden. Anlässlich des 25-jährigen Schuljubiläums hat Zülch dieses Schaffen jetzt in einem aufwändig gestalteten Posterbook dokumentiert, was ihn dann doch von anderen KollegInnen unterscheidet.

Beim Blättern fühlt man sich in die eigene Schulzeit versetzt. Das Bild „Golden Future“ zum Beispiel zeigt eine Schülergruppe (Punk, Popper, Bioboppel) auf dem Weg aus einer Stadtlandschaft. Dieses Bild mit dem universellen Schüler könnte die Wand beinahe jeder Schule zieren. Ja, auch wir sahen so aus 1981, 85 oder wann auch immer. Schwanewede ist in diesem Sinne also die ganze Welt.

Zülch und sein inzwischen nach Karlsruhe gezogener Kollege Bodensieck müssen bei der Vermittlung ihres Stoffes ziemlich erfolgreich gewesen sein. Kubisten und Dadaisten wie Braque, Picasso oder Schwitters wurden da imitiert. Eine Zeit lang zierte eine lebensgroße Figur die Schulwand, der vom „Himmelsstürmer“ auf der vorletzten Documenta inspiriert war. Und in diesen Tagen entsteht in der Schwaneweder Waldschule eine Installation mit himmelsstürmenden Staubsaugern, zu der Joseph Beuys Schlittenherde „Das Rudel“ als Vorbild diente. Doch es geht Zülch nicht nur um Nachahmung. Manche ehemalige SchülerInnen wie der Posterbook-Gestalter Björn Mehnen haben später im künstlerischen Bereich ihren Beruf gefunden.

Die Dokumentation unter dem Titel „kunst.zeit.raum“ hat auch einen schulpolitischen Aspekt. Es ist bei den in Niedersachsen geplanten so genannten Profilschulen noch völlig unklar, was aus dem Kunstunterricht werden soll. Jede der 31 im Posterbook dokumentierten Arbeiten macht klar, was für einzigartige Erfahrungen SchülerInnen bei solch einer Art Kunstunterricht machen können. Bislang haben die wechselnden Schulleiter die Projekte nach Zülchs Angaben unterstützt. Die Vandalen kamen von anderswo. Gleich mehrere spektakuläre Arbeiten im öffentlichen (Schul-) Raum wurden zerstört. Eine als Abischerz gedachte Installation eines zersägten Ruderbootes haben Unbekannte angezündet. Das Gleiche geschah mit einem à la Wolf Vostell künstlerisch nachgestellten Autounfall, der klasse ausgesehen haben muss. Ganz heil ist die Welt auch in Schwanewede nicht. ck

Präsentation des Posterbooks „kunst.zeit.raum“ und einer Ausstellung heute um 19.30 Uhr in der Begegnungsstätte Schwanewede, Ostlandstraße 25. E-Mail-Kontakt unter www.kunst-zeit-raum.de

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