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Aufgehoben in der Depression

Sommerloch (7): Die Wilmersdorfer Straße ist eine Stätte voll urbaner Tragik. Ihre Häuser haben Staub angesetzt, aber ihre besondere Menschenmischung und Clowns, denen die Luftballons zerplatzen, machen sie traurig schön

Für Melancholiker ist der Sommer eine Herausforderung. Im Gegensatz zu feuchten und farblosen Jahreszeiten kommt es in den warmen Monaten besonders auf die Wahl des Ortes an, der die angemessene Mischung aus Depression und Aufgehobensein herstellt. Aber Berlin ist groß, und Stätten voll urbaner Tragik findet der Kenner immer: die Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße zum Beispiel.

Als Gregor Gysi mit der These provozierte, die große Koalition habe den Westteil der Stadt vernachlässigt, hatte er Weddinger oder Neuköllner Problemkieze im Sinn. Er hätte auch die Charlottenburger Einkaufsmeile meinen können. Aber wahrscheinlich war Gysi noch nie auf der Wilmersdorfer. Warum auch?

Schon die Ankunft auf dem U-Bahnhof rührt den Melancholiker seltsam an. Dunkelbraune Wände schaffen eine schummrige Atmosphäre, die vor Jahrzehnten so up to date gewesen sein muss wie die Rollrampen, die heute behäbig nach oben rumpeln. Wer dann im Freien steht, hat eine weite Reise hinter sich: Nicht nur räumlich ist die Neue Mitte weit weg. Mit der Ankunft auf der Wilmersdorfer vollzieht sich auch ein unheimlicher, zweifacher Zeitsprung. Einerseits ist die städtebauliche Entwicklung dieser auf Konsumzwecke reduzierten Zeile in den Achtzigerjahren stecken geblieben. In ihrer Trostlosigkeit richtet sie aber auch eine visionäre Warnung in Richtung Friedrichstraße und Kranzlereck: So sieht es aus, wenn Profite plötzlich woanders gemacht werden, wenn der Zyklus aus Neubau und Abriss stockt, wenn Gegenwartsarchitektur Staub ansetzt.

Und die Wilmersdorfer ist wirklich grauenhaft. Eingerahmt von Nachkriegskästen, die Erdgeschosse vollgestopft mit Filialisten, der Trend geht zum Restpostenramsch. Ecke Kantstraße kämpfen C&A und Konsorten mit Fassadenkosmetik gegen die Verelendung, an der Schillerstraße wird sie greifbar: Der Laden, den das Karstadt-Parkhaus mit seiner rußgeschwärzten Kachelfront beherbergt, verscherbelt Kunstledertaschen, „alle 5 Mark“. Tauben raufen sich um ein Stück Pizza. Vor einem Schuhladen rinnt trübes Wasser gelangweilt in zwei Brunnentröge. „Kein Trinkwasser!“, warnt eine Plakette. Natürlich nicht.

Eingerahmt wird die Fußgängerzone von einer Phalanx unproportionierter Lüster. Es sind die Pfeiler eines Gewölbes aus Plexiglas, das die Fußgängerzone einst überdachte, bis es – verdreckt – vor wenigen Jahren abgeflext wurde. Als der Melancholiker noch ein Kind war, kam ihm das alles sehr modern vor. Solche Vergänglichkeit treibt das gefühlte Alter nach oben.

Aber es gibt auch Leben auf der Wilmersdorfer, gerade im Sommer. Ihre Besonderheit ist die Menschenmischung. Touristen gibt es keine, und auch Zuzügler aus dem Rest der Republik finden in den seltensten Fällen den Weg hierher. Dafür lässt sich ein echter Nationenmix erleben: Im Gegensatz zu den oligokulturellen Quartieren rund um Kottbusser Tor oder Hermannplatz ist das ethnische Geflecht der Wilmersdorfer feinmaschiger. Menschen nahöstlicher Abstammung mischen sich mit solchen afrikanischer, asiatischer und osteuropäischer Provenienz. Russisch hört man hier oft, immer wieder Russisch, aber auch Spanisch, Englisch oder Italienisch. Die Exotik der Menschen versöhnt mit der tristen Kulisse.

Der Melancholiker nimmt auf dem Brunnenrand Platz und sieht den Menschen zu. Dem alten Mann, der mit einem Kind auf Russisch diskutiert. Beide tragen die gleiche gelbe Schirmmütze, auf der „Berlin Linien Bus“ steht. Oder dem Zerlumpten, der im Blickschutz eines Mülleimers Münzen zählt. Aus dem Loch mit der Aufschrift „Wir geben Ihrer Kippe ein Zuhause“ steigt Rauch auf. Später streift der Mann mit einer Tüte Weintrauben durch die Straße. Ein Musikant spielt Jazztrompete, ein Clown knickt für Kinder Luftballons zu Figuren. Ab und zu zerplatzen sie ihm zwischen den Fingern. Schön, denkt der Melancholiker: schön traurig.

CLAUDIUS PRÖSSER

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