piwik no script img

The American Dreams

■ Unser Start-up-Autor Tim Ingold und seine beliebte Amerika-Serie: Heute erzählt er unter anderem vom Tanz halbnackter Menschen auf Pickups

Als ich pubertierte, erschienen mir die Vereinigten Staaten als Verkörperung all dessen, was ich mir sehnlichst erträumte. Ein Kumpel hatte mir von der Institution der spring break erzählt, und nachdem ich eine Doku darüber im Fernsehen gesehen hatte, wusste ich auch, wie so etwas auszuschauen hat: Junge gutaussehende CollegestudentInnen fahren unter sengender Sonne über den Strand von Miami Beach, tanzen halbnackt und lachend auf den Ladeflächen von Pickups, aus deren Radios das wabert, was ich damals für schmutzigen Rock 'n' Roll hielt (zum Beispiel „I can 't drive 55“ von Sammy Hagar oder „I want you to rock me“ von Vixen) und übergießen sich gegenseitig mit Bier.

Das war zu schön, um wahr zu sein. Da wollte ich hin. Ich hängte mir eine Landkarte der Ostküste über das Bett, auf der ich Miami Beach rot umkringelte. Durch die unkritische Rezeption von Filmen wie Rambo II, Rocky IV, Missing in Action, Iron Eagle oder Top Gun wusste ich nicht nur, wie amerikanische Außenpolitik auszusehen hat, sondern auch, dass die Amerikaner die Guten sind, die zurecht gottverdammt stolz auf ihr großartiges Land sein können.

Ich war in dieser Zeit vermutlich der patriotischste Amerikaner, der jemals in Norddeutschland geboren wurde und niemals amerikanischen Boden betreten hatte. Ich klebte auf die Heckklappe des alten Opel Rekord meines Vaters eine amerikanische Flagge (und kaschierte so nebenbei ein paar Rostbeulen).

Als Operation Desert Shield anlief, schrieb ich auf die Tische in der Schule „Free Kuwait!“ und malte ein paar Kampfbomber der Air Force dazu, so überzeugt war ich von der Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit dieses Krieges.

Amerika, dachte ich, das ist the country of the brave and the land of the free. Keine spießigen Nachbarn, keine Verbote, niemand, der sich beschwerte, wenn man mal mit der Mofa durch den Wald bretterte und vor allen Dingen: Waffen! Man könnte in einen Supermarkt latschen und sagen: „Guten Tag, ich hätte gern das M21-Sturmgewehr mit integriertem Granatwerfer ... genau, das aus dem Angebot ... und ein Dutzend Tellerminen, bitte.“

Nein, man bräuchte noch nicht einmal etwas zu sagen, man würde den Kram einfach in den Einkaufswagen werfen und eine gelangweilt dreinschauende Kassiererin würde ihn über die piepende Registrierkasse ziehen. Nein, überlegte ich mir, eine Kassiererin in Amerika würde nicht gelangweilt dreinschauen. Die wäre höflich, aufmerksam, freundlich, jung, blond und hätte eine gewaltige Oberweite, die sie mit einem über dem Bauchnabel verknoteten Hemd notdürftig im Zaum halten würde.

Und wenn ich sagen würde, dass da draußen auf dem Parkplatz meine Mofa - nein, mein Ford Pickup - stünde und ob sie nicht Lust hätte, mit mir in den Wald zu fahren um ein bisschen zu campen und Krieg zu spielen, würde sie begeistert bejahen, alles stehen und liegen lassen und sich umgehend auf den Beifahrersitz werfen. Und sich dort räkeln.

Wir würden mir dem Pickup direkt in den Wald reinfahren und uns ein hübsches Plätzchen an einem romantischen Wildbach suchen. Ich würde ihr das Angeln beibringen und sie würde die gemeinsam gefangenen Fische für uns zubereiten. Zwischendurch würden wir ein bisschen mit dem M21 durch die Gegend ballern und ein paar Bäume mit dem Granatwerfer umnieten. Und niemand hätte etwas dagegen. Wanderer würden uns freundlich zuwinken und wir würden rufen „Achtung, Baum fällt!“ und anschließend herzlich lachen und uns tief in die Augen schauen.

Ich würde ihr aus Versehen - oops - etwas Bier über das zusammengeknotete Hemd schütten, worauf sie gezwungen wäre, das Teil auszuziehen, was sie mit einem milde tadelnden Lächeln auch tun würde. Abends, nachdem wir ausgiebig den Sternenhimmel betrachtet hätten und ich ein wenig Thomas Mann zitiert hätte („Sehen Sie, Frollein, doch bloß die Sderne an. Da sdehen sie und glitzern, es ist, weiß Gott, der ganze Himmel voll“) - nachdem ich also Thomas Mann zitiert hätte (den ich gerade in der Schule durchgenommen hatte), würden wir gemeinsam in meinen Schlafsack kriechen und sie würde in meinen Armen seufzen: „Ach Tim, ich danke dir, dass du mich aus den Fängen des Supermarkts befreit hast!“ Und ich würde ihr den Oberarm tätscheln und sagen: „Wendy, tramps like us, baby, we were born to run.“ Und ich würde ... leider klingelte in diesem Moment das Telefon.

Es war mein Kumpel Jendrik. „Na was is Alter, haste Bock annen Baggersee zu fahrn oder was?“ Ich zog mir meine Jeansweste mit dem großen „Life free or die“-Aufnäher (ein Adler vor dem star spangled banner) über, schwang mich auf meine Mofa und sparte mir die Fortsetzung meines Traumes für später auf, wenn das Juchzen der Badenden, der Sand und das Plätschern des Baggersees mir den Strand von Miami Beach simulieren würden. Tim Ingold

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen