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Wahlverwandtschaften

Der König spricht kein Isländisch, der Ärmste! Nach diversen Rechtsstreitigkeiten um Namensrechte war die Walther von Goethe Foundation offizieller Teilnehmer auf der Gay-Pride-Parade in Reykjavík

Demobanner sind wegen des Regenwetters aus Plastikfolie

von WOLFGANG MÜLLER

Er war der letzte direkte Nachfahre von Goethe, der unglückliche Walther von Goethe. Sein berühmter Großvater starb, als er gerade sechs Jahre alt war. Er lebte in dessen Haus in Weimar, verwaltete seinen Nachlass und versuchte sich als Komponist. Bereits zu seinen Lebzeiten wurde das Wohnhaus allmählich zum Museum und er damit zum Inventar. Im Jahr 1880 schließlich starb Walther, der Letzte derer von Goethe in Frankfurt am Main und wurde endgültig zur Fußnote der Goethe-Forschung. Sein musikalisches Werk gilt als bedeutungslos.

Nie zuvor hatte ich von Walther, dem Enkel Goethes, gehört. Es war im März 2001. Gerade hatte mir die Zentrale des Goethe-Instituts in München eine Unterlassungsverpflichtungserklärung gesandt. Bei Androhung einer Strafe in Höhe von 10.000 DM für „jeden Fall der Zuwiderhandlung“ dürfe ich mich zukünftig nicht mehr als Leiter oder Direktor eines staatlichen oder privaten Goethe-Instituts in Reykjavík oder sonstwo bezeichnen, da trat der Goethe-Enkel überraschend in mein Leben. Der Isländer Jón B. Atlason, Germanist und Goethe-Kenner, wies mich auf den vergessenen Goethe-Spross hin, dessen offenkundigen homosexuellen Neigungen gerade Gegenstand der aktuellen Veröffentlichung eines Herrn Hegemüller über „mannmännliche Liebe“ im letzten Jahrhundert gewesen sei. Fürst Carl Alexander zu Sachsen-Weimar, mit dem Walther zeitlebens freundschaftlich verbunden war, hatte ihm einen dort zitierten Brief geschrieben, in dem er Walther aufforderte: „Nun schreibe er mir ein Brief, mit Höschen, aber ohne Kothurnen.“ Kothurnen sind hochhackige Schuhe für das Theaterspiel, stehen also gemeinhin als Ausdruck für eine gestelzte Redeweise.

Noch ganz unter dem Einfluss des geharnischten Briefes der Rechtsabteilung des Goethe-Instituts in München, ging ich daran, nach Auswegen für das Missverständnis mit dem Goethe-Institut zu suchen. Die Situation war so, als hätte der dänische König seine Schlossresidenz verlassen, um sich anschließend im Theater Shakespeares Hamlet anzuschauen. Dort, auf der Bühne erblickt er einen Schauspieler, der vorgibt, der dänische König zu sein, und verklagt ihn wegen Verwechslungsgefahr und markenschutzrechtlicher Bedenken.

Wenn Kunst und Wirklichkeit so merkwürdig kollidieren, kann die Kunst die Kraft entwickeln, die traurige Wirklichkeit um eine neue Facette zu bereichern. Diese eben bildete sich in und mit Walther, einer unglücklichen, aber durchaus liebenswerten Gestalt. Wichtig und bedeutsam wie jeder Mensch. Der Wiesbadener Rechtsanwalt Heiko Wiese, der mich in der Sache Goethe-Institut contra Müller vertrat, fügte nun einen entscheidenden Satz in die zugesandte Unterlassungsverpflichtungserklärung ein. Nämlich, dass sein Mandant ohne Anerkennung eines Schuldeingeständnisses und als Zeichen des Entgegenkommens sein Kunstprojekt „privates Goethe-Institut Reykjavík“ zukünftig in „Walther von Goethe Foundation Reykjavík“ umbenennen werde. Die Namensänderung akzeptierte die Rechtsabteilung des Goethe-Institutes.

Kurze Zeit später erreichte das Institut im Juli ein erstes offizielles Schreiben aus Island: „Wir würden uns sehr freuen, wenn die Walther von Goethe Foundation Reykjavík – Berlin beim diesjährigen Gay Pride in Reykjavík bei der Demonstration mit einer eigenen Abordnung vertreten sein würde.“ Unterschrieben war die Einladung von Ragnar Ragnarsson, Organisator im Festkomitee und Sekretär der Samtökin 78, der isländischen Schwulen- und Lesbenorganisation. Im Jahr zuvor war zum ersten Mal eine Demonstration zum Gay Pride auf der einspurigen Hauptstraße von Reykjavík, dem Laugavegur, entlanggezogen. Auf und an der Straße wurden bis zu 10.000 Zuschauer gezählt, ein Riesenerfolg für die Organisatoren in der 100.000-Einwohner-Stadt Reykjavík.

Am Morgen des 5. August 2001 erreicht die einköpfige Delegation der Walther von Goethe Foundation den Airport Leifur Erikson in Keflavík. Die geschichtliche Dimension meines Besuches ist mir durchaus bewusst: Als der dänische König Christian der IX. im Jahr 1874 den Festlichkeiten der tausendjährigen Besiedlung Islands in der alten Parlamentsstätte Thingvellir beiwohnte, amüsierte sich der vielleicht einzige deutsche Anwesende, der Schriftsteller und Arzt Dr. Max Nordau alias Simon Südfeld („Vom Kreml bis zur Alhambra“), dass er vom einheimischen Festredner in Gegenwart des Königs nicht nur als Vertreter Deutschlands, sondern auch als Vertreter Österreichs und der Schweiz vorgestellt wurde.

Tatsächlich aber demonstrierten die Isländer damit dem dänischen König ihre Eigenständigkeit und die angestrebte Unabhängigkeit von Dänemark. Nordau, neben Herzl bekanntester Zionist, schildert leicht fassungslos, wie Bauern und Fischer in Reykjavík auf den König zugehen und ihn mit ihren schwieligen, schmutzigen Händen begrüßen. Sie sprechen ihn ohne Förmlichkeiten an und verlassen ihn kopfschüttelnd mit dem Ausspruch: „Hann talar ekki islensku, karlgreyid!“ – „Der Ärmste, er spricht kein Isländisch!“

In der zentralen Werkstatt für den Festumzug warten bereits fünf bemalte Wagen. Der Grand-Prix-Sänger von 1997, Páll Óskar, reicht mir ein großes Stück weißer Plastikplane und goldene Lackfarbe. „Für das Demobanner von Walther“, erläuterte er. Ein Transparent aus Plastikfolie? Oh ja, das wäre üblich, da das Wetter auf Island sehr unbeständig sei. Falls es in Strömen regne oder ein Sturmtief die Insel erreiche, könne das Transparent trotzdem noch hochgehalten werden. Ein Stoffbanner würde das nicht aushalten. „Oder hast du vielleicht schon mal jemand mit Regenschirm auf Island gesehen?“ Das nicht, aber tatsächlich neulich ein Foto mit dem Journalisten Henryk M. Broder in Regenjacke zum 1. Mai in Reykjavík im anarchistischen Block unter dem Plastiktransparent „Fuck The Government!“.

Gay Pride Reykjavík unterhält insgesamt 18 Sektionen. Die Polizeibegleitung übt ein einzelner uniformierter Polizist auf einem wuchtigen Motorrad aus. Gefolgt von „Dykes on Bikes“, zwei Lesben ebenfalls auf dem Motorrad. Dann folgen diverse Organisationen wie der schwule Lederclub (MSC), eine Peitsche schwingende Domina, eine Gruppe äußerst dekorativ gewandeter Thai-Queens, Asizo, der Indianer aus Brasilien, die zehnköpfige Tanzgruppe Linedancing Lesbians, Eltern von Schwulen und Lesben und die Aktivisten der Aidshilfe. Der Walther von Goethe Foundation wurde die Teilnehmernummer 13 zugeteilt: Sie besteht zunächst aus Elisa Alfredsdóttir, dem einzigen Mitglied der isländischen Transvestitenorganisation, und mir.

Heimir Már, Pressesprecher des CSD, teilt unterdessen den örtlichen Sendern mit, dass bereits Delegationen aus aller Welt eingetroffen seien. „Darunter ein Indianer aus Brasilien und aus Berlin die Walther von Goethe Foundation.“ Mehr und mehr Zuschauer schließen sich dem Zug an und als er schließlich am zentralen Kundgebungsplatz, dem Ingólfstorg ankommt, zählt selbst der Block der Walther von Goethe Foundation über fünfzig neue Mitglieder.

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