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Herr der Triebe

Beta-Filmfest, die Fünfte: Eine kleine Hommage an den brasilianischen Regisseur und Meister des abseitigen Horrorfilms José Mojica Marins

Was ist das für eine Welt, in der die Kinos der Kindheit Parkplätzen weichen müssen? Die Planierung des Fantastischen, Urbanisierung des Irrationalen. José Mojica Marins hat als Kind mit seiner Familie in alten Kinos gewohnt, und es waren symbiotische Beziehungen. Kino nahm ihn völlig in Beschlag, Marins schöpfte all seine Kraft aus den Double- und Triple-Features, in denen er sich die Nächte um die Ohren schlug. Später vergaß er sogar seinen Hunger, wenn er selber hinter der Kamera stand. Das ist wahre Hingabe. Genauso sehen auch seine Filme aus: eine Welt voller Triebe. Marins Kosmologie von Perversion, Sadismus, Nekrophilie, Kannibalismus und sexueller Entgleisung war Genre-Kino von einer überwältigenden Bildersprache. Perfider und abgründiger als Hershel Gordon Lewis, schöner und surrealer als Mario Bava.

Da hockte Marins weitab vom Schuss als lebendiges Faktotum in einer alten Synagoge in São Paulo, die er in ein veritables Horrorkabinett verwandelt hatte, und reproduzierte seine krankhaften Fantasien wie eine regelrechte Abstrafung der eigenen Obsessionen. Seine Filme „This night I’ll possess your corpse“, „At midnight I take your soul“ (beide beim Betafilmfest zu sehen), „Das Ritual der Sadisten“ (deutsche Reinübersetzung des portugiesischen Originaltitels) und „Die seltsame Welt des Zé de Caixao“ hatten in den Sechzigern eine kleine harte Fan-Gemeinde, wozu auch Marins exzentrisches Auftreten zu beitrug. Sein filmisches Alter Ego Zé de Caixao (auch „Coffin Joe“, der Sarg-Johannes) wurde mehr und mehr zu Marins wahrem Ich. Bald trug er dessen Nosferatu-ähnliche Klauenfingernägel, das schwarzes Cape und Zylinder auch in seiner Freizeit. Der Zé wurde in Brasilien schnell zu einer großen Horror-Ikone, das südamerikanische Pendant zu Dracula und Frankenstein, und Marins zum „Master of the Ceremony“ des Horrorfilms: selbst eine mythologische Gestalt. Während der Dreharbeiten zu einem seiner ersten Filme starben beispielsweise seine beiden Hauptdarstellerinnen; die, die überlebten, zwang er, sich mit Taranteln und Schlangen zu bedecken und Würmer zu essen.

Diese, unsere Welt aber, in der Parkplätze wichtiger als Kinos sind, hat natürlich kein Herz für Exzentriker und geniale Spinner. Ende der Sechziger setzte ihm das brasilianische Militärregime zu, zensierte seine Arbeiten rigoros und trieb ihn in den Ruin. In den Achtzigern sah er sich dann gezwungen, Pornos zu drehen (u. a. den ersten brasilianischen „Tierfilm“, „24 Stunden heißer Sex“ von 1983).

Erst vor ein paar Jahren wurde Marins in Amerika und Europa wiederentdeckt. Mit ihrer liebevollen Dokumentation „Coffin Joe: The Strange World of José Mojica Marins“ gewannen Andre Barcinski und Ivan Finotti im letzten Jahr auf dem Sundance Filmfest sogar den ersten Preis. Berlin Beta nutzt diesen Film, um Marins mit einer kleinen Hommage zu würdigen.

ANDREAS BUSCHE

„Coffin Joe: The Strange World of José Mojica Marins“. Central, 4. 9., 22.30 Uhr und 5. 9., 22.15 Uhr; im Doppel mit: „This night I’ll possess your corpse“ am 4. 9. und „At midnight I take your soul“ am 5. 9.

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