Zersprengte Geschichte...

■ ...tanzbare Brüchigkeit: Drum'n'Bass-Etabliererin Storm legt am Freitag wieder einmal im Mojo Club auf

Kurz bevor Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nazis 1940 Selbstmord beging, schrieb er über eine Zeichnung von Paul Klee. Sie zeigt eine Figur, die Benjamin den „Engel der Geschichte“ nennt: aufgerissene Augen, offener Mund, ausgespannte Flügel, der Vergangenheit zugewandt. „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“

Dieses Bild, mit dem die Ruinen der Städte gemeint sind, aber auch die Scherben des Glücks, die sich in die modernen Seelen geschnitten haben, hat seinen Soundtrack im vergangenen Jahrzehnt in Drum'n'Bass gefunden, der letzten Momentaufnahme der Popkultur des 20. Jahrhunderts. Nie zuvor war Musik derart von der Idee bestimmt, das Fragment auszukomponieren, es in seiner Brüchigkeit tanzbar zu halten, die in Teilchen zersprengte Geschichte als musikalische Figur zu bewahren: Breakbeats, Bruchschläge, die sich dem linearen Taktmaß sperren.

„Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen“, setzt Benjamin die verzweifelte Zeichnung fort, „aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat.“ Dieser Sturm drängt den Engel in die Zukunft, „während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst“. Hatte nicht Goldie auf seinem Timeless-Album gleich zwei Tracks, die er „Angel“ nannte?

Dort gab es auch Kemistry zu hören, Künstlername von Kemi Olusanya, der 1999 bei einem Autounfall tödlich verunglückten Partnerin von Jayne Connely aka DJ Storm. Sie waren die eigentlichen Köpfe des Metalheadz-Labels, haben Drum'n'Bass spätes-tens durch ihr legendäres Set kurz vor Kemistrys Tod in Hamburg etabliert. Storm setzt dies alleine fort: „Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ Das, was wir Drum'n'Bass nennen, ist DJ Storm.

Roger Behrens

 Freitag, 23 Uhr, Mojo