: Was Vornamen zu sagen haben
Eine Datenbank in Berlin umfasst nun 411.000 „Ergänzungskarten“, die Juden bei der Volkszählung 1939 ausfüllten
Das 1995 errichtete Holocaust-Denkmal in Boston ist simpel und erschreckend zugleich. Sechs gläserne Säulen, auf denen sechs Millionen Nummern eingraviert wurden. Der einen beim Betrachten überkommende Schauder ist aber oft nur von kurz. Zum einen stört der von der anderen Straßenseite herüberdringende amerikanische Kneipenlärm, zum anderen strahlen die Zahlen Anonymität aus. Man weiß zwar, dass jede einzelne Zahl für ein Menschenleben steht, doch sich dessen bewusst zu werden ist fast unmöglich. Menschen brauchen anscheinend Namen, um andere Menschen als solche erst begreifen zu können.
Um ebendiese Namen der Opfer des Holocaust ging es am Montag im Berliner Centrum Judaicum. Im Rahmen des Projekts „Juden in Deutschland vor der Vernichtung“ wurde die in Zusammenarbeit mit dem Staatistischen Bundesamt und der Deutsch-Jüdischen Gesellschaft entstandene neue Computerdatenbank des Deutschen Bundesarchivs vorgestellt. Was daran so interessant ist, das sind die darin erfassten „Ergänzungskarten über Abstammung und Vorbildung“ aus der Volkszählung vom 17. Mai 1939: Fragebögen, auf denen neben dem vollständigen Namen, Geburtsnamen, Geburtsort, Adresse und der Schulbildung auch die „Rassenzugehörigkeit“ der Großeltern angegeben wurden. Die Ergänzungskarten dienten laut Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin zur „registrativen Vorbereitung“ des Holocaust und mussten 1939 von allen im „Dritten Reich“ als Juden definierten und den in ihren Haushalten lebenden Personen ausgefüllt werden.
Die Karten haben eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Nach 1945 waren sie in den bis dahin vom Reichssippenamt genutzten Räumen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, dem heutigen Centrum Judaicum, verblieben. DDR-Behörden wurden erst 1981 auf den Bestand aufmerksam und lagerten ihn nach Potsdam um. Obwohl die Aufarbeitung der Daten durch das Bundesarchiv bereits 1992 begonnen wurde, konnte die Arbeit erst jetzt abgeschlossen werden. Das lag zum einen an der schieren Größe der Bestände, die 411.000 Personen umfassen. Aber auch an der mangelnden finanziellen Beteiligung des Bundes. Michael Wolffsohn, stramm konservativer Dozent an der Münchner Bundeswehrakademie und Leiter der Deutsch-Jüdischen Gesellschaft, betonte deshalb mehr als einmal das von ihm eingebrachte Privatkapital. Julian Nida-Rümelin nahm aber den somit hingeworfenen Fehdehandschuh nicht auf.
Etwa 85 Prozent der 1939 noch in Deutschland lebenden Juden umfasst die neue Datenbank. Mit ihrer Hilfe lässt sich ein bislang nur schwer rekonstruierbares Bild des jüdischen Lebens am Vorabend des Zweiten Weltkriegs nachzeichnen. Insbesondere über das Verhältnis zwischen Judentum und Deutschsein lassen sich, wie Wolffsohn betonte, neue Schlüsse ziehen: anhand der im Haushalt lebenden Deutschen, der Ehepartner, der jüdischen oder nichtjüdischen Großeltern und Vornamen. Denn Vornamen, ob jüdisch oder nicht, seien laut Wolffsohn wie „Umfragen in vordemoskopischer Zeit“ und ließen Rückschlüsse auf das Selbstverständnis der Einzelnen zu. Assimilierte Juden haben ihren Kindern eben keine jüdischen Namen gegeben.
Weiterhin aber sind von den sechs Millionen Juden, die während der Zeit des Nationalsozialismus ermordet wurden, bislang lediglich vier Millionen namentlich bekannt. Obwohl sich Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, für eine gesamteuropäische Initiative nach dem Beispiel des Bundesarchivs aussprach, wird das Schicksal von einer Million erschossener und somit nirgendwo registrierter Juden nur in Einzelfällen rekonstruierbar bleiben. TOBIAS RECKLING
Die Datenbank ist einzusehen in der Lichterfelder Filiale des Bundesarchivs: Finckensteinallee 63, 12205 Berlin
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