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Angriff als Verteidigung

Die Anschläge in den USA haben durchaus ihre religiöse Logik. Doch die theologischen Begründungen des militanten Islam für diese Art von Dschihad sind dürftig

Selbst Fundamentalistenhaben Angst,zu Nichtmuslimen erklärt zu werden

Weitsichtige Politiker, bekümmerte Muslime und auf die Reputation ihres Fachgebiets bedachte Islamwissenschaftler sind sich einig: Für die grässlichen Anschläge in den USA dürfe der Islam nicht verantwortlich gemacht werden. Doch ganz so schnell lassen sich seine theologischen Möglichkeiten zur Rechtfertigung nicht beseitigen.

Formen des Dschihad. Im Koran und den Hadith, den Sammlungen außerkoranischer Sprüche Mohammeds, ist die bewaffnete militärische Kriegführung vielfach verankert. Was der Dschihad tatsächlich ist, legen islamische Gelehrte seit über 1.000 Jahren unterschiedlich aus. Mit den Schriften des Rechtsgelehrten Ibn Taymiya (1268 bis 1328 u. Z.) verbreitete sich die Ansicht, dass die Welt in eine muslimische und eine nichtmuslimische Zone geteilt sei, das Haus des Islam (Dar al-Islam) und das Haus des Krieges (Dar al-Harb). Krieg meinte weder die Vernichtung der Bevölkerung des Dar al-Harb noch ihre Zwangsbekehrung, sondern lediglich die Etablierung einer islamischen Regierung. Dies drückt die Überlegenheit gegenüber den anderen Religionen aus und erlaubt, eine gerechte politische und soziale Ordnung zu schaffen.

Der Dschihad ist kein individueller Auftrag, sondern eine allgemeine Verpflichtung der Gemeinde, solange überhaupt Gläubige diese Bürde übernehmen – so die klassische Sichtweise. Im Gegensatz dazu forderte der „aktivistische“ Ibn Taymiya von den islamischen Regierungen, den Dschihad offensiv als Krieg gegen die Kreuzritter und Mongolen zu führen, die Teile des Dar al-Islam besetzt hielten. Zudem sei die Teilnahme eine individuelle Verpflichtung für jeden einzelnen Muslim. Eine dritte Auslegung kennt die Kombination von Kampf gegen das Unrecht („kleiner Dschihad“) mit dem Kampf gegen die innere Versuchung („großer Dschihad“) – bis heute eine dominante Form islamischer Spiritualität.

Viel radikalere Positionen haben sich seit der Mitte des letzten Jahrhunderts aus Ibn Taymiyas Ansicht entwickelt, der Dschihad müsse zuerst auf das Beseitigen der eigenen Regierungen abzielen, die der Scharia keine Geltung verschaffen. Die Ermordung der ägyptischen Staatschefs Nasser und Sadat und die Vertreibung des Schahs von Persien sind hier theologisch verankert, auch der siegreiche Kampf der Taliban gegen die anderen Muslimgruppen Afghanistans.

So ist der Aufenthalt von Bin Laden, dem mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge in den USA, bei den Taliban auch religiös begründet. Hier ist die Herrschaft bereits islamisch, nur von hier aus ist die nächste Stufe des Dschihad möglich. Der Krieg wird in das Territorium des Feindes getragen. Während der religiöse Inhalt des Dschihad die Verteidigung des Glaubens bleibt, ändert sich die Form: von der Verteidigung zum Angriff.

Märtyrertod. Schlagkräftig ist dieser Dschihad vor allem wegen des Märtyrertodes geworden. Einige islamische Strömungen betrachten ihn als den Höhepunkt des Glaubens und das religiös reinste Ereignis des Dschihad. Als Märtyrer Gestorbene gelangen automatisch ins Paradies, erhalten dort den höchsten Rang und dürfen neben dem Thron Gottes sitzen. Sie verlieren alle Sünden und benötigen keine Fürsprache des Propheten. Und sie sind durch ihre Taten gereinigt, sie bedürfen also vor dem Begräbnis keiner Waschung.

Zur gesellschaftlichen und familiären Akzeptanz tragen die vielfachen Vorteile für die Angehörigen des Märtyrers bei. Neben einem enormen Zuwachs an Ansehen erhalten sie reichlich finanzielle Unterstützung. Im Milieu der pakistanischen Koranschulen herrscht zudem die Ansicht, dass der Märtyrer 70 Verwandte aussuchen darf, die ihm ins Paradies folgen. Von Selbstmordanschlägen kann übrigens keine Rede sein, denn Selbstmord ist vom Koran verboten.

Märtyrer demoralisieren den Feind und stärken das eigene Lager, was in der Mediengesellschaft besonders gut möglich ist. Schon die islamischen Kämpfer im Tschetschenien des frühen 19. Jahrhunderts haben Berichte über ihre Aktionen verteilt; die Fernsehbilder vom einstürzenden Welthandelszentrum in Manhattan stellen an sich bereits die Propaganda der Tat dar. Die TV-Sendungen enthalten vier Funktionen: Sie fordern andere Märtyrer zu Taten auf; sie ermutigen Unentschlossene dazu, Märtyrer zu werden; sie erlauben es, die Details des Leidens der Märtyrer zu erörtern und vergrößern damit noch die Sympathie für sie; und die weltweite Verbreitung ihrer Namen und Bilder bringt eine intensivere Andacht an den Jahrestagen des Anschlags mit sich.

Für einfache Gläubige reicht die Billigung der Anschläge durch einzelne Geistliche in den Moscheen

Kriegsrecht. Eine Fülle von Vorschriften regeln die Kriegführung im Einzelnen. Frauen, Kinder, Alte und Verwundete dürfen nicht getötet werden. Den islamischen Soldaten ist auch untersagt, wirtschaftlichen Schaden anzurichten. Auch Betrug ist im Krieg verboten; außerdem darf keine Waffe eingesetzt werden, die nicht zuvor schon von der anderen Seite eingesetzt worden ist.

Doch in den letzten Jahrzehnten ist zunehmend unklar geworden, wer als Kombattant getötet werden darf und wer als Zivilist zu verschonen ist. Als legitime Ziele gelten inwischen auch Beamte (in Indien) und Kollaborateure (in Kaschmir), Frauen (im US-Militär) und Kinder (im iranisch-irakischen Krieg) sowie Unbeteiligte, wenn auf sie nicht „direkt“ gezielt wurde.

Fatwas. Ganz aufgehoben ist diese Unterscheidung in der Kriegserklärung Bin Ladens an die USA vom 23. 2. 1998: „Die Amerikaner zu töten, Zivilisten und Militärs, ist die individuelle Pflicht jedes Muslims“, schrieb er in seiner Fatwa, einer Art religiösem Gutachten. Bin Laden begründet den von ihm ausgerufenen Dschihad mit drei Vorwürfen. US-Militär halte sich auf der Arabischen Halbinsel auf, der Hidschas, die theologisch als heilige Erde gilt. Von dort aus übe es Aggressionen gegen den Irak mit inzwischen mehr als einer Million Tote aus. Zwar seien alle Herrscher dagegen, aber leider machtlos – ein feinsinniges Friedensangebot. Zudem schützten die USA Israel und die Besetzung Jerusalems; in Palästina würden ebenfalls Muslime ermordet.

Nach einer strengen Auslegung des Koran ist Bin Ladens Fatwa nicht legitim. Das Töten von Zivilisten ist nach koranischem Recht streng untersagt. Außerdem ist Bin Laden kein ausgebildeter Theologe und darf deswegen gar keine Fatwa verbreiten. Hier zeigt sich aber, wie genau die Angriffe von New York und Washington zu dieser Kriegserklärung und den Einwänden dagegen passen. Die Opfer im Pentagon können als Militärpersonen betrachtet werden. Und das Welthandelszentrum selbst mit seinen tausenden von Zivilisten war bereits von Scheich Omar Abderrahman, Professor an der Azhar-Hochschule, „freigegeben“: Der Rechtsgelehrte war selbst am Anschlag von 1993 auf das Welthandelszentrum beteiligt. Der Wortlaut seiner Fatwa, die er angeblich im innersten Kreis seiner Anhänger verkündet haben soll, ist unbekannt. In Predigten hat er ohne konsistente religiöse Begründung Anschläge als Vergeltung für die Untaten des Westens gerechtfertigt.

Unschuldige. Die theologische Begründung für den vieltausendfachen Tod von Zivilisten bleibt damit schwach; Bin Laden beruft sich auch nicht auf Omar Abderrahman, sondern wiederholt nur seine Vergeltungsrethorik. Als eine Legitimation bietet sich an, die zivilen Toten als Kollaborateure zu betrachten, weil sie an diesem Ort waren. Selbst wenn sie Muslime waren, hielten sie sich nur dafür, denn Muslim kann nur sein, wer sich dem Dschihad anschließt.

Nach einer strengen Auslegung des Koran ist die FatwaUssama Bin Ladens nicht legitim

Eine zweite Legitimation sieht den Krieg des Westens gegen den Islam nicht nur militärisch und wirtschaftlich, sondern auch moralisch. Danach führt jeder, der für Weltlichkeit und Westlichkeit eintritt, diesen kulturellen Krieg gegen den Islam mit. Die dritte Legitimation sieht die Anschläge als kriegerische Akte gegen Symbole; damit werde die Frage nach Schuld oder Unschuld der Opfer nachrangig.

Für einfache Gläubige reicht zudem die Billigung der Anschläge durch einzelne Geistliche in den Moscheen; hier gewinnen die Attentäter durch ihre schiere Effizienz eine quasitheologische Definitionsgewalt. Tatsächlich weigert sich nun der größte Teil der islamischen Gelehrten, sich aktiv mit den religiösen Problemen dieser Aktion auseinanderzusetzen. Die meisten unterstreichen nur hilflos die eigene, gemäßigte Vorstellung vom Dschihad.

Der Islam kennt keine zentrale religiöse Instanz, und selbst nichtmilitante fundamentalistische Islamisten setzt Bin Ladens Begriff von Dschihad nichts entgegen, weil sie nicht als Heuchler betrachtet werden wollen. Dabei wäre es ein wichtiger Beitrag, den religiösen Gehalt von Bin Ladens Fatwas offensiv zu hinterfragen, um ihm die Legitimation zu nehmen. Dieser Beitrag kann nur in der islamischen Gesellschaft erbracht werden – so wie die nichtislamische Gesellschaft jetzt aufgefordert ist, zwischen dem Islam und den Aktionen in seinem Namen zu unterscheiden. DIETMAR BARTZ

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