: Entsetzen und Abstraktion
DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER
„Die Welt von gestern“ heißt ein Buch von Stefan Zweig. Wir dachten immer, dass man schon sehr alt sein müsse, um Bücher mit solchen Titeln zu versehen. Es stimmt nicht. Fast alles, was uns umgibt, stammt nun aus der „Welt von gestern“. Nur wir selbst sind seltsame Zwittergeschöpfe, nicht mehr ganz von der alten und noch nicht ganz von der neuen Welt.
Was man noch am Montag vergangener Woche für Gespräche führen konnte! Ein paar Theaterkritiker saßen beisammen und debattierten über unseren Äon, weil Theaterkritiker unterhalb dieser Schwelle gar nicht erst anfangen. Das liegt an ihrem dramatischen Sinn. Es ging ein bisschen um Mazedonien – erinnert sich noch jemand an Mazedonien? – und dann um das Vakuum unserer Zeit, genannt Spaßgesellschaft.
Die radikaldramatische (Theater-)Fraktion gab ihrer Ansicht Ausdruck, dass die Spaß-Leere irgendwann einmal wieder zu füllen sei, vielleicht mit einer neuen Utopie. Die Fraktion der gemäßigten desillusionierten Mitte plädierte für das Vakuum als wohltemperierten Aufenthaltsort freier Geister. Nur keine Emotionen! Und man verschone uns mit Utopien. Die Alternative zum Jetzt sei ganz sicher die Barbarei, erläuterten unterkühlt die Skeptiker. Man erkenne das unfehlbar am Untergang des alten Rom. War doch auch eine Art Spaßgesellschaft. Schützt die Spaßgesellschaft!
Am nächsten Tag mischte sich in das Entsetzen, den Unglauben vor den Fernsehbildern Erstaunen. Auch wer der Geschichte nie getraut hat, schon gar nicht ihrer angeblichen Tendenz zum Fortschritt, sah seinen Argwohn zynisch überboten. Spaßgesellschaft? Vakuum? Explosionsartig gefüllt. Das tiermenschliche Mischwesen, das wir sind, konnte beinahe körperlich die Qual der Eingeschlossenen teilen.
Wer fähig ist, das von sich fern zu halten, ist schon ein Gefangener der Ideologien. Was die tanzende Palästinenserfrau so gespenstisch machte, war ja nicht ihr Antiamerikanismus, sondern die Abwesenheit jedes Mitgefühls. Im Feind nicht mehr den Menschen erkennen, sein Leiden mit Kühle zu sehen – dort, wir wissen es, beginnt die Barbarei. Was unterschied die Palästinenserfrau von Angela Merkel? Merkels erste Reaktion war: „Dies ist ein Anschlag auf die Freiheit!“ – Auch sie sah also zuerst ein Abstraktum. Falsch!, wollte man ihr entgegenrufen, dies war zuallererst ein Anschlag auf Menschen.
Warum ist die Stunde eines großen Entsetzens immer auch die einer großen Abstraktion? Man sollte sich vor dem Vorwurf der Naivität nicht fürchten. Abstrakt denken zu können, zeichnet den Menschen aus. Nie nur abstrakt zu denken ebenfalls. Denn alles Inhumane, diese Fähigkeit, tierischer als ein Tier zu sein, kommt ebenfalls aus der Abstraktion. Wofür flogen denn die „heiligen Krieger“ in den Tod? Für die 72 Jungfrauen, die jeden von ihnen laut Islam im Himmel erwarten? Dass die Familien der Märtyrer gleich mit in den Himmel kommen – ob zusammen mit den 72 Jungfrauen, weiß niemand –, ist die Siegprämie, kein Motiv. Nein, die „heiligen Krieger“ flogen für die Abstraktion eines Weltbildes.
Jedes Feindbild ist schon eine Abstraktion. Gut und Böse – man hört die Worte jetzt wieder öfter. Noch tief in der DDR haben wir uns immer auch ein bisschen vor dem mythischen Temperament der Amerikaner gefürchtet. Evil Empire, Reich des Bösen – das waren damals wir, jedenfalls die Außenstelle.
In den Buchläden stehen noch zuversichtlich die Bücher von gestern. Focus-Sachbuch-Charts, Platz 13: Hans-Olaf Henkels „Die Macht der Freiheit“. Platz 15: Gregor Gysis „Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn!“ So brüderlich nebeneinander, immerhin. Zwischen beide passt nur noch Iris Berben: „Älter werde ich später“ – Platz 14.
In der Welt von gestern hätte ich Platz 14 genommen. Jetzt lese ich Hans-Olaf Henkel. „Die Macht der Freiheit“. Dem früheren Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie fiel beim Schreiben seiner Erinnerungen auf, dass ein roter Faden sein Leben durchzieht: die Suche nach der Freiheit. Zum 50. Geburtstag bekam Henkel eine Thomas-Mann-Rede geschenkt, in der stand, dass Freiheit und Gleichheit, absolut genommen, sich ausschließen wie Individuum und Gesellschaft. Aber, so Thomas Mann, sie können sich versöhnen und gegenseitig rechtfertigen. Henkel, seit seinem 50. Geburtstag bekennender Thomas-Mann-Sympathisant, deutet den Großschriftsteller: „Wir haben zu viel Gleichheit, dementsprechend zu wenig Freiheit, und müssen uns deshalb auch nicht wundern, wenn die Menschen immer weniger Solidarität füreinander aufbringen wollen.“ Ob Thomas Mann den BDI-Präsidenten verstanden hätte? Es träfe darum, fährt Henkel unbeirrt fort, von Indien über Sri Lanka bis Amerika die zivilisatorische Zauberformel zu: Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft!
Dass die Menschenrechte weltweit gelten, sollten auch Sie akzeptieren, Herr Scholl-Latour!, wies unser erfahrungsarmer Innenminister Otto Schily bei „Christiansen“ gerade den großen alten Mann zurecht. Erfahrungen sind das natürliche Gegengift der Abstraktion. Ist Scholl-Latour gegen die Menschenrechte? Oder sieht er nur, dass ihre Geltung in unserem Sinne die Auflösung gewachsener Kulturen und traditionaler Lebenszusammenhänge bedingt, wogegen ihr Instinkt sich sperrt? Die islamische Welt spürt, dass die Menschenrechte de facto gekoppelt sind an unsere Wirtschaftsgesinnung, die allen Religionen im Ursprung tief fremd erscheint.
Die Menschenrechte sind wohl so wenig wie der Weltprozess selbst eine folgerichtige Emanation des Guten. Die Wirtschaft braucht das freibewegliche, das autonome Subjekt – das ist der sehr prosaische Ursprung ihrer Geltung. Solches Wissen nimmt nichts weg vom zivilisatorischen Überschuss der Menschenrechte, doch es mildert die Geste unseres Triumphs. Es macht bescheidener.
Ist das die Stunde der Bescheidenheit? Schon werden auch bei uns Stimmen laut, die „deutsche Feigheit“ verhöhnen. Und das World Trade Center sei schnell wieder aufgebaut, im Zweifel noch viel höher als vorher – so reden Ungebrochene. Jedes Denken jenseits bloßer Abstraktion aber ist bekennende Schwäche.
Denn eine Frage blieb bisher unbeantwortet. Für wen haben die Gotteskrieger das getan? Für die eigene, die arabische Welt, wäre die herkömmliche Antwort. Die Palästinenserfrau hat es so verstanden. Aber es ist nicht wahr. In Wirklichkeit haben die Terroristen die arabische Welt ausgeliefert.
Es muss also etwas anderes sein. Wollen Allahs Krieger gar diese verhasste Erde, von der man nichts mehr erwartet, aufeinander hetzen und auslöschen? Erst das wäre der wirkliche Triumph über den Westen. Man denkt an die Diagnose der „Dialektik der Aufklärung“. Aufklärung schlägt in den Mythos zurück.
Wir sind dem Verhängnischarakter der Geschichte nicht entronnen. Auch Hans-Olaf Henkel nicht. Zum 70. Geburtstag schenken wir ihm noch einen Thomas-Mann-Aufsatz: „Schicksal und Aufgabe“. Noch einmal der Ausgleich von Freiheit und Gerechtigkeit. Thomas Mann nimmt das plebejisch-messianische Element ernst, dessen Perversion die Gotteskrieger sind.
Fotohinweis: Kerstin Decker ist Publizistin und seit 1999 „Schlagloch“-Autorin
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