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Kreisch, seufz

God bless America für diesen erhabenen Abend: R. Kelly sang in Berlin von Sensibilisierung und Erlösung, griff sich in den Schritt, konnte kaum noch an sich halten, hatte Sex mit 7.000 Zuschauern

von TOBIAS RAPP

Solidarität mit den amerikanischen Freunden, so heißt es ja im Moment allerorten, sei die Forderung der Stunde. Wer sich bisher nicht so recht ausmalen konnte, wie das aussehen soll, wenn man nicht gerade Bundeskanzler ist und militärische Entscheidungen zu treffen hat und auch keine Kerzen vor der amerikanischen Botschaft anzünden möchte: Der Montagabend im ausverkauften Berliner Velodrom eröffnete eine ganz neue und überzeugende Möglichkeit – Sex mit R. Kelly. Tatsächlich scheinen nicht wenige der rund 7.000 Zuschauer schon vorher geahnt zu haben, dass dieser denkwürdige Abend den richtigen Augenblick finden würde, um die amerikanische Fahne zu schwenken, und hatten ein Star-sprangled-Banner mitgebracht. So freute man sich dann auch, als der Vorhang fiel, eine US-Fahne auf der Leinwand hinter der Bühne erschien und mit Krach und Trara die ganze Halle mit silber-goldenem Konfetti voll geschossen wurde: Hey, das ist ja wie die Nominierung des Präsidentschaftskandidaten hier!

Doch nun sollte es erst einmal um noch Wichtigeres gehen: um R. Kellys Schwanz nämlich. Man kann sich R. Kelly als eins der letzten heterosexuellen Komplettindividuen vorstellen, als einen Mann mit Schwanz, etwas, was es in seiner abendländischen Originalausgabe kaum noch gibt, weil hierzulande alle viel zu dezentriert und vergrübelt um die Häuser ziehen und die Restbestände von Seele, die dabei sichtbar werden, keine Freude anzuschauen sind. Ganz im Unterschied zu R. Kelly, der ausschaut wie Marvin Gaye, wenn dieser regelmäßig ein Fitnessstudio aufgesucht hätte.

Und von Marvin Gaye hat er auch die Dramaturgie seiner Show übernommen – ein R.-Kelly-Konzert handelt davon, Sex mit dem Publikum zu haben. Wo andere Künstler eine aufwendige Bühnenshow präsentieren, geht es bei R. Kelly nur um ihn, seine Stimme und seinen Körper. Nun ist jenseits des Schreibens von perfekten Soulsongs wenig schwieriger als die Kunst der Verführung, aber R. Kelly beherrscht beides. Der erste Teil: sagen, dass man der Tollste ist. Sich zaghaft in den Schritt greifen und den dicken Maxen markieren. Teil zwei: seine Wünsche artikulieren und davon singen, dass man kaum noch an sich halten kann, sich in die Hose greifen, und davon singen, dass man den Körper des Publikums als Spielwiese haben möchte. Jetzt. Hier. Sofort. Oh, Lord! Teil drei: Einen Gang herunterschalten und Sensibilität demonstrieren, davon singen, dass man weiß, was das Publikum durchgemacht hat.

Und spätestens hier, wo das Publikum sich schon im Zustand kollektiver Raserei befindet, schaltet R. Kelly noch einen Gang herunter – wer geglaubt hat, Soul handle ausschließlich von Sex, muss sich nun mit dem Gedanken anfreunden, dass auch Sex nur ein Medium ist. Denn es geht um Erlösung: Und wer hätte das im Moment nötiger als die Opfer der Anschläge von Washington und New York? R. Kelly fordert uns auf zu beten und lässt die amerikanische Nationalhymne einspielen. Nur noch mühsam kann man sich auf den Beinen halten. Ob es sich Gerhard Schröder so vorgestellt hat, als er sagte, wir seien alle Amerikaner? Auf der Leinwand hinter der Bühne erscheint die amerikanische Fahne, R. Kelly nutzt die Pause zum Kleiderwechsel.

Nun hat er uns da, wo er uns haben wollte: Wir sind am Boden, wir lassen es mit uns geschehen. Nachdem R. Kelly rund ein halbes dutzend Mal angekündigt hatte, er werde sich nun ausziehen, und er nur von seinem Bandleader gestoppt werden konnte oder der Lichtmann das Licht abdrehte: Nun ist es so weit. Nach und nach entledigt er sich seiner Kleidungsstücke, verschwindet in einem Käfig, wo ihm zwei seiner Tänzerinnen assistieren: Der Käfig versinkt in der Bühne, als Schattenspiel fällt schließlich auch die Hose – kreisch, seufz, was für ein schöner Mann. Was tun mit all diesem Begehren, das in solchen Augenblicken durch eine Konzerthalle wabert? Durchdrungen und übermannt vom schlechten Gewissen – schließlich hat er gerade Sex mit 7.000 Menschen hinter sich gebracht –, singt R. Kelly ein Stück für seine unlängst an Krebs verstorbene Mutter.

Doch das ist noch nicht alles – noch ist die Katharsis nicht überwunden, die individuelle Erfahrung muss noch in eine allgemeingültige Erkenntnis überführt werden. Und so kommt es, wie es kommen musste. Als letztes Stück kommt „I Believe I Can Fly“ – ein Stück, das R. Kelly, bedenkt man den Titel und Inhalt, nicht unbedingt den Opfern der Anschläge von New York und Washington hätte widmen müssen. Aber schlussendlich handelt es doch genau von dem, was wir Amerikaner alle glauben, dass wir nämlich fliegen können, wenn wir nur wollen, dass wir erreichen werden, was wir uns vornehmen, wenn wir nur stark genug an uns und an unser Ziel glauben – und das ist auch genau das, was uns zu Amerikanern macht.

Die Art und Weise, wie R. Kelly diesen Gassenhauer überdeterminiert, lässt das Gedenken an die Opfer aber ohnehin in den Hintergrund treten. R. Kelly singt, und während er singt, kippt das Stück in einer Weise ins Operettenhafte, wie es sich nicht einmal Freddie Mercury getraut hätte – schließlich verschwindet R. Kelly ganz, um einer Zeichentrickfigur die Show zu überlassen, sich selbst, wie er auf der Leinwand hinter der Bühne in einer Kirche Einlass begehrt. Dieser wird ihm aber verweigert, R. Kelly fällt auf die Knie, bittet Gott und Jesus um Beistand, Löwen und Zebras fallen vom Himmel, seine Mutter erscheint als Engel, und schließlich weist ihm die Hand Gottes den Weg, er soll nur an sich glauben – um dann zwischen lauter Engeln zu entschweben.

Vielleicht kann große Kunst nur aus der postkoitalen Depression erwachsen, denkt man sich, doch dann steht auf einmal der leibhaftige R. Kelly wieder vor einem. Er hat seinen Sohn auf dem Arm und sie sind beide in eine amerikanische Fahne gewandet – als wollte er sagen: Hey, dies ist eine Show, und dies bin ich, so wie ich bin. Der kleine Junge zeigt das Victory-Zeichen, R. Kelly hebt ihn in die Höhe und die beiden verschwinden hinter der Bühne. God bless America für solch erhabene Augenblicke.

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