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Mrs. Ehrenreich im Wunderland

Arm sein in Amerika: Wie geht das? Wie funktioniert das? Welche Fähigkeiten muss man mitbringen? Die amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich geht diesen Fragen mit der altmodischen journalistischen Methode nach: Sie zieht einfach selbst los und findet es heraus – die Studie „Arbeit poor“

von DIRK KNIPPHALS

Derzeit dreht es sich zwischen New York und Kalifornien um andere Dinge. Es wäre aber schade, wenn dabei dieses Buch hintenüberfallen würde – und das nicht nur, weil es soziale und ökonomische Basics der amerikanischen Gesellschaft verhandelt, die, da darf man sicher sein, auch nach dem 11. September noch Gültigkeit haben. „Arbeit poor“ ist eine beinahe klassisch zu nennende Studie, die sich durch die Tugenden des gediegenen amerikanischen Journalismus auszeichnet, als da wären Neugierde, Akribie in der Recherche, Anschaulichkeit, Direktheit und Lesbarkeit.

Die bekannte amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich („Angst vor dem Absturz. Das Dilemma der amerikanischen Mittelklasse“, „Blutrituale“) beschreibt in dem Buch Arbeitsverhältnisse, die nicht nur wenig Sozialprestige garantieren, sondern zudem auch noch nicht einmal ausreichen, um die Miete zu bezahlen. Zum Beispiel geht es um das Wegmachen von Scheißespuren in den Klos von Reichenvillen in Maine.

Zunächst aber erzählt sie eine kleine Geschichte, die in angenehmem Ambiente spielt und darüber Auskunft gibt, wie sie ihre Studie angegangen ist. In einem „dezenten Restaurant mit französischer Landküche“ hat sich die Autorin, wie sie gleich auf der ersten Seite vermerkt, mit Lewis Lapham, dem Herausgeber der Zeitschrift Harper’s Magazine zum Essen getroffen. Schon diese Charakterisierung des Treffpunkts verrät, dass Barbara Ehrenreich weiß, wie sehr es auch bei moralisch einwandfreien Unternehmen auf die feinen Unterschiede ankommt. Man kam dann also, zwei Liberale unter sich, darauf zu sprechen, wie es denn der Unterschicht gerade wohl so gehe. Und nun geht alles ganz schnell. Barbara Ehrenreich spricht den Satz: „Es müsste mal wieder jemand mit dieser altmodischen Methode rangehen – einfach losziehen und es selbst herausfinden.“ Worauf Lewis Lapham nur ein einziges Wort sagt: „Du.“ Von der Idee bis zum Rechercheauftrag in, sagen wir, zwei Bissen französischer Landküche.

Diese Episode ist mehr als nur eine Reverenz an die angelsächsische Ansicht, dass eine Story von ihrem Anfang an zu erzählen sei. In diesem Beginn liegt auch eine ganz gehörige – und, bei einem Thema, das leicht in guten Absichten stecken bleiben könnte, auch Vertrauen erweckende – Portion distanzierender Professionalität. Hier geht es nicht in erster Linie um Empathie mit den Opfern des Kapitalismus, dies ist Journalismus, Baby; und den gehen wir jetzt mal ganz sorgfältig an.

In der Folge des Treffens wendet Barbara Ehrenreich also die altmodische Methode an und zieht einfach los. Jeweils einen Monat lang arbeitet sie, herausgerissen aus ihren sozialen Bindungen, als Kellnerin in Florida, als Putzfrau in Maine sowie als Verkäuferin in Minnesota. Dabei zieht sie ihre Linie, sich mit journalistischer Professionalität zu panzern, konsequent durch. Zunächst legt sie „gewisse Regeln und Parameter“ fest. So nimmt sie sich vor, während der Recherchezeiten nur von dem geringen Lohn zu leben, den sie verdient; einen Wagen gestattet sie sich aus pragmatischen Gründen aber doch. Und große Sorge trägt sie, während der Recherche unter den professionellen Dienstleisterinnen nicht weiter aufzufallen, um bald „mit innerer Befriedigung“ feststellen zu können „dass die meisten mir ziemlich ähnlich sehen: leicht verwelkte Ex-Hippie-Frauen in Shorts mit langen, nach hinten geflochtenen Haaren“.

Mit dem Günter-Wallraff-Mäßigen des Setting sollte man sich nicht weiter aufhalten. Bemerkenswert ist vielmehr, mit welcher Selbstverständlichkeit Barbara Ehrenreich von Anfang an davon ausgeht, auf vollkommen unbekanntes Terrain vorzustoßen. „Aufbruch“, so ist die Einleitung betitelt, als ginge es auf eine Expedition zu einem weit entfernten Stamm. Dass die amerikanische Gesellschaft nicht aus einem Guss ist, das hat man schon vor der Lektüre wissen können. Wie deutlich diese Feldforschungen im eigenen Land aber den Riss markiert, das überrascht dann doch.

Dabei liefern sie nicht nur Anschauungsmaterial zu den in der Soziologie viel diskutierten Thesen rund um Inklusion und Exklusion. Was Barbara Ehrenreich zeigt, ist, dass Armsein und Reichsein in den USA jeweils eigenen, scharf voneinander getrennten Bedingungen und Regeln gehorcht. Zum Ende hin wird sie von ihrer „Alice-im-Wunderland-Exkursion“ sprechen. Mrs. Ehrenreich im Wunderland.

Was sie dort erlebt, kriegt sie durch drei Geisteshaltungen verarbeitend in den Griff: durch Erstaunen darüber, dass alles noch viel schlimmer ist, als sie es sich gedacht hatte (was sich etwa zwischen einfachen Angestellten und den Managern abspielt, lässt sich kaum anders denn als tagtäglichen Kleinkrieg rund um Zigarettenpausen, Pinkelpausen und Diebstahlsverdächtigungen beschreiben); durch Dankbarkeit in den raren Momenten, in denen doch so etwas wie Solidarität zwischen den Angestellten aufscheint; und drittens durch den Versuch, die – hallo Alice – interne Rationalität der zunächst widersinnig erscheinenden Regeln und Vorschriften zu verstehen.

Letzteres ist gar nicht so einfach. Allein schon die Fragebogen, die bei einer Bewerbung um einen Job mit sechs, sieben Dollar Stundenlohn auszufüllen sind, strotzen vor Merkwürdigkeiten. Man muss möglicherweise beantworten, ob man „häufiger oder seltener als andere Menschen in Schlägereien verwickelt ist“ oder ob man sich Situationen vorstellen könne, „in denen Handel mit Kokain nicht kriminell ist“. Wie ein Bewerber, der den Job haben will, zu antworten hat, ist so dermaßen klar, dass solche Tests auf den ersten Blick nur als Aufforderung zur Heuchelei zu begreifen sind.

Auf den zweiten Blick spricht Barbara Ehrenreich ihnen noch eine strukturelle Funktion zu: Immerhin müssen sich Bewerber für solche Fragebogen – obligatorische Drogentests kommen hinzu – einen Tag frei nehmen. Das aber können sich viele in der Tat nicht leisten. Also bleiben sie bei ihren alten Jobs, auch wenn der etwas schlechter bezahlt sein sollte. So wirken die Tests in ihrer Gesamtheit systemstabilisierend – ein Baustein in der Rationalität der Ausbeutung.

Wer darüber hinaus in dem Buch nach Zahlen und Einzelheiten sucht, um sich über die gegenwärtigen Zustände zu empören, der wird im Übermaß fündig werden. Wenn man etwa liest, wie die amerikanischen Putzkolonnen durch die zu reinigenden Villen getrieben werden – förmlich im Laufschritt, ohne Rücksicht auf Haut- oder sonstige gesundheitliche Probleme –, und wenn man dann auch noch erfährt, dass die Hauptsorge vieler Auftraggeber darin besteht, versteckte Videokameras zu installieren, um die Putzfrauen bei ihrer Tätigkeit zu überwachen, dann muss man einfach den Kopf schütteln vor so viel fehlender sozialer Sensibilität.

Die Tatsache, dass auch die Auftraggeber Anlass zur Empörung hätten, nimmt man da fast schon mit Schadenfreude auf: Das Lehrvideo, das den Putzkräften von ihrer Firma zur Schulung vorgeführt wird, handelt ausschließlich davon, wie man am schnellsten den Eindruck erweckt, ein Haus gesäubert zu haben. Eine hygienisch einwandfreie Säuberung steht gar nicht im Angebot.

Es liegt natürlich nahe, solche Episoden gegen die simpel gestrickten und ideologisch gefärbten Erzählungen von der schönen, neuen Dienstleistungswelt in Position zu bringen (im Nachwort der deutschen Ausgabe tut dies Horst Afheldt auch). Es hieße aber dieses Buch zu unterschätzen, wenn man es nur daraufhin liest, wie schlecht es der Unterklasse in einer auf neoliberale Konzepte umgestellten Wirtschaft geht. Bei Licht besehen ist die Art und Weise, wie vehement die Studie eine der ganz großen Erzählungen der westlichen Wirtschaft unterläuft, noch brisanter: die Erzählung, dass die Bezahlung eines Menschen an seine Leistung gekoppelt ist.

Der einführende Dialog in dem französischen Restaurant hatte ja auch sportive Untertöne: Wird Barbara Ehrenreich es tatsächlich schaffen, sich jeweils einen Monat lang mit unterbezahlten Jobs durchzuschlagen? Es gelingt ihr nicht immer. Bei ihrem dritten Job muss sie endgültig ihre Niederlage eingestehen – in Minneapolis schafft sie es nicht, eine für sie bezahlbare Wohnung zu finden (der Grund ist interessant; es gibt hier zu viele Reiche, sie verdrängen den billigen Wohnraum nach so weit außerhalb der Stadt, dass von ihm aus die Arbeitsplätze nicht mehr zu erreichen sind). Auch ein Leben in einem unterbezahlten Job, heißt das, braucht hohe organisatorische Fähigkeiten, viel Zähigkeit und ein unerschrockenes Selbstbewusstsein – Leistungen, die sich allerdings nicht lohnen. Ob jemand sechs Dollar und sechzig Dollar die Stunde verdient, hat letztendlich kontingente Ursachen.

Und noch etwas anderes nimmt man von der Lektüre mit: die Erkenntnis, dass es interessant ist, sich mit Armut zu beschäftigen. Da dies doch eher selten geschieht, ist das wohl die bitterste Einsicht in diesem an Einsichten – und das folgende Wort ist mit Bedacht gewählt – reichen Buch.

Barbara Ehrenreich: „Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft“. Aus dem Amerikanischen von Nils Kadritzke. Verlag Antje Kunstmann, München 2001, 254 Seiten, 37 DM

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