: Der Schläfer von nebenan
Wenn der Nachbar in die aktuellen Ereignisse verwickelt ist. Ist er doch, oder?
Er war ein paar Wochen nicht da, aber heute ist er wieder aufgetaucht. Als ich den Fahrstuhl verließ, sah ich Herrn Nazaruk an einem der Fenster in unserem Treppenhaus. Er trug wieder seinen blauen Kaftan, atmete schwer und fuchtelte mit einem Glockenwecker herum. Zwischen tiefen Luftzügen brabbelte er unablässig, und ich meinte etwas von „Telefonweckdienst“ zu verstehen. Als ich an ihm vorüberging, konnte ich sehen, womit Herr Nazaruk beschäftigt war. Er blätterte keuchend, schniefend, hechelnd, wispernd, zuweilen irr auflachend und mit großen Schweißperlen auf der Stirn in den Gelben Seiten. Mit erzwungener Gemächlichkeit hatte ich inzwischen meine Wohnungstür erreicht und hinter mir geschlossen. Ich hörte gerade den Anrufbeantworter ab, als Herr Nazaruk plötzlich Sturm klingelte. Ich sah ihn durch den Türspion, in der Hand hielt er noch immer seinen Wecker. Er lächelte verkrampft und rollte nervös mit den Augen. Sein rechter Fuß scharrte auf dem Treppenabsatz. „Enschuldigung“, rief er mir durch die geschlossene Tür zu, „bitte, können Sie mir sagen, wie spät es ist?“
Herr Nazaruk war mir schon immer unheimlich gewesen. Seit fünf Jahren war er mein Nachbar, aber nie hatte ich ihn zu Gesicht bekommen. Stets waren die Jalousien seiner Fenster heruntergelassen, nie hatte er Besuch empfangen, durch die dünnen Wände meiner angrenzenden Wohnung drangen keine Geräusche von Radio oder Fernsehen, nur ein ständiges monströses Schnarchen zerrte an meinen Nerven.
Doch dann, vor drei Wochen, war plötzlich Leben in die Bude gekommen. Alles fing damit an, dass zum ersten Mal seit fünf Jahren ein Weckerschrillen aus Herrn Nazaruks Wohnung drang und mich beinahe zu Tode erschreckte. Kurz darauf hörte ich ein lautes Gähnen und seine Toiletten-Spülung. Ich vernahm, wie er laut gurgelte und allerlei weitere Verrichtungen an sich vornahm. Eine Viertelstunde später klingelte es an meiner Tür. Ich schlich zum Spion und spähte hindurch. Das stand Herr Nazaruk in seinem blauen Kaftan und hielt eine Tasse in der Hand. Ob ich ihm mit etwas Kaffeepulver aushelfen könne, fragte er mich durch die verschlossene Tür. Ich konnte tatsächlich, und bei der Übergabe entdeckte ich Kopfkissenabdrücke auf seinem Gesicht. Er müsse schnell verreisen, brabbelte er los, er sei spät dran, viel zu spät, immer würde er verschlafen, dieser verfluchte Wecker, hoffentlich käme er noch rechtzeitig, wenn er wieder zu spät käme, gäbe es Ärger von oben, ein einziges Mal wolle er pünktlich sein, er müsse sich jetzt beeilen, er habe eine Mission zu erfüllen, bei Allah, was sei er wieder spät dran, ob ich ihm ein Handbuch über Flugzeuge leihen könne. Das konnte ich nicht, ich hatte selbst keins. Jetzt müsse er aber wirklich los – brabbelte er und brabbelte, und erst nach einer halben Stunde konnte ich ihn abwimmeln.
Dann war er weg, und wie packte mich der Schrecken, als ich in meine Tageszeitung sah, in der Generalbundesanwalt Kay Nehm ausführlich beschrieb, woran ich einen terroristischen Schläfer erkennen könne:
1. Ständig heruntergelassene Jalousien.
2. Lautes Schnarchen aus der verdächtigen Wohnung.
3. Kopfkissenabdrücke im verdächtigen Gesicht
Jetzt ist Herr Nazaruk wieder da. Er hat es damals offensichtlich nicht mehr rechtzeitig geschafft und steht in diesem Moment, während ich diese Zeilen schreibe, vor meiner Tür und will die Uhrzeit wissen, weil er seinen Wecker stellen muss, denn wenn er noch ein einziges mal zu spät käme, gäbe es richtig Ärger von oben . . . Ich werde ihm nicht sagen, wie spät es ist!
CORINNA STEGEMANN
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