: Das Dorfgericht tagt
aus Kigali DOMINIC JOHNSON
„Nein zu den Leugnern, nein zu den Völkermördern“, steht auf dem weißen Transparent über der Kirchentür. Drinnen sind Wände und Altar voller braunroter Flecken, das Dach ist mit Einschusslöchern übersät, als hätte die Zeit stillgestanden. 10.000 Menschen starben in der Kirche von Nyamata zwischen dem 9. und 14. April 1994, als Ruandas damalige Armee wenige Tage nach dem Beginn des Völkermordes das Gelände angriff und die dorthin geflüchteten Tutsi massakrierte; 10.000 weitere wurden in der Umgebung massakriert. Heute ist die Kirche eine Gedenkstätte. Im Untergeschoss liegen Knochenberge.
Fünf Menschen haben die Massaker von Nyamata überlebt und leben heute noch im Ort. 8.000 mutmaßliche Täter der Region sitzen im Gefängnis. In den sieben Jahren seit dem Genozid sind 120 von ihnen vor Gericht gestellt worden. Neun Todesurteile wurden gefällt, 20 Angeklagte zu lebenslanger Haft verurteilt. Nicht viel für 20.000 Leichen. Bei diesem Tempo werden die meisten Häftlinge vor ihrem Prozess im Gefängnis sterben – oder man muss sie ohne Prozess freilassen. Dann wären die Massaker niemals aufgeklärt.
Um das zu ändern, führt Ruanda in dieser Woche ein weltweit einmaliges neues Gerichtssystem ein. In Dorfgerichten, so genannten Gacaca (wörtlich „Rasen“), soll Ruandas Bevölkerung selbst die Schuld oder Unschuld der heute noch insgesamt 115.000 inhaftierten Völkermordverdächtigen feststellen. Ab Donnerstag sind alle Ruander aufgerufen, auf öffentlichen Versammlungen 212.000 Gacaca-Richter zu wählen.
Die Nachbarn urteilen
Die Gacaca-Gerichte sind eine Weiterentwicklung der traditionellen ruandischen Konfliktschlichtung, wonach unter der Führung allseits akzeptierter Persönlichkeiten die Leute einen Konsens über ein strittiges Thema finden. „Die Überlebenden brauchen Gerechtigkeit, die Häftlinge brauchen Gerechtigkeit. Gacaca soll die Probleme beider Seiten lösen“, erklärt Marguerite Mukansanga, Bürgermeisterin der Stadt Gitarama, wo während des Völkermordes die dafür verantwortliche Regierung ihren Sitz hatte. „Wenn die Überlebenden sehen, dass die Schuldigen verurteilt werden, erfahren sie Genugtuung. Und für die Häftlinge geht die Unsicherheit über ihr weiteres Schicksal zu Ende. Mit Gacaca werden wir die Wahrheit erfahren.“
Der Staatsanwalt von Nyamata hat das ausprobiert. Auf einem Dorfplatz versammelte er im Juni 2.000 Menschen, während die Polizei einen Lastwagen mit 18 Häftlingen in hellrosa Gefängnisuniformen heranfuhr. „Dies sind eure Kinder, eure Nachbarn“, verkündete der Staatsanwalt per Megafon. „Ihr wisst, was 1994 in unserem Land geschah. Diese Leute werden verdächtigt, am Völkermord teilgenommen zu haben. Ihr werdet sagen, was ihr über sie wisst, entweder zu ihren Lasten oder zu ihrer Entlastung, und wie sie sich in dieser schrecklichen Zeit verhielten. Werdet nicht emotional! Macht keine falschen Beschuldigungen! Habt keine Angst, die Wahrheit zu sagen!“
Dann bekam jeder Häftling das Megafon und musste sich vorstellen. Jedes Mal fragte der Staatsanwalt die Menge, wer diesen Menschen kenne. Wer sich meldete, musste in die Mitte des Kreises der Versammelten treten und aussagen. Zehn der 18 Häftlinge wurden entlastet und durften nach Hause gehen. Die anderen werden später vor ein Gacaca-Gericht gestellt.
Die Uhr zurückgedreht
Weder vor Ruandas modernen Gerichten noch vor dem Ruanda-Tribunal der UNO gab es bisher für einfache Menschen die Möglichkeit, zu erzählen, was sie 1994 erlebten. Ruanda richtete nach dem Völkermord keine Wahrheitskommission nach südafrikanischem Vorbild ein – eine bewusste Entscheidung, die auch damit zu tun hatte, dass jahrelang fast zwei Millionen Ruander, darunter die meisten Täter, als Flüchtlinge im Ausland lebten. Erst heute, wo fast alle zurückgekehrt sind und in Ruanda Frieden herrscht, kann sich das Land leisten, dass Täter, Opfer und Zuschauer miteinander reden.
„Die Rekonstruktion der Tatsachen könnte eine kathartische Wirkung haben“, analysiert Urusaro Alice Karekezi von der Nationalen Universität Ruandas in einer Studie zu den Gacaca-Gerichten. „Wenn das eintritt, haben die Ruander vielleicht eine Gelegenheit, sich gegenseitig zu verstehen.“ Das ruandische Justizministerium hat mehrere Ziele der Gacaca-Gerichtsbarkeit festgelegt: Wahrheitsfindung; schnellere Prozesse; Ende der Straflosigkeit; Stärkung der nationalen Einheit. Das ist viel für eine Laieninstitution, deren Mitglieder ehrenamtlich arbeiten sollen. Aus Sicht von Nichtexperten geht es zunächst um Dinge, die eher das Gegenteil von „nationaler Einheit“ bedeuten. „Es gibt Menschen und es gibt Völkermörder, und man muss zwischen beiden unterscheiden“, ist die Meinung des Kirchenwärters von Nyamata, Epimaque Rwema, zu Gacaca. Er hofft: „Die Völkermörder werden sich gegenseitig verraten.“
Einer Umfrage der Menschenrechtsorganisation Liprodhor (Liga zur Förderung der Menschenrechte in Ruanda) zufolge begrüßen 81 Prozent der Ruander die neuen Gerichte, aber 51 Prozent fürchten einen Bürgerkrieg, falls sie scheitern. Firmin Mutabazi, Direktor des regierungsunabhängigen Dorfentwicklungsverbandes Inades (Afrikanisches Institut für wirtschaftliche und soziale Entwicklung), ist einer von vielen, denen auf Nachfrage zu Gacaca erst einmal Probleme einfallen: „Es ist, als würden wir die Uhr auf 1994 zurückdrehen. Einige werden reden, andere nicht. Wie kann man verhindern, dass eine Gruppe sich vordrängt und über die anderen richtet?“
Aber Gacaca ist kein Volksgericht, in dem eine aufgehetzte Meute per Akklamation richtet, wie manche Hutu-Exilanten behaupten. Es ist ein Laiengericht, in dem die Rollen von Staatsanwalt, Verteidiger und Zeugen beim Publikum liegen. Ob das gelingt, hängt entscheidend von der Autorität der Richter ab.
Die wichtigste Wahl
Das am 13. Oktober 2000 vom Parlament verabschidete Gacaca-Gesetz nennt die Gacaca-Richter „Inyangamugayo“. Wörtlich heißt das „jemand, der Schande ablehnt“, dem Sinne nach „ehrenwerte Personen“. Der Gesetzestext führt aus, gemeint seien „integre und gebildete Personen, die nicht an den Tötungen beteiligt waren“. In Gitarama erläutert Bürgermeisterin Mukansanga: „Es gibt Kriterien: ein loyaler Mensch, der die Wahrheit sucht und sagt; der glaubwürdig ist, keine Probleme mit seinen Mitmenschen hat, nicht zu viel trinkt und so weiter“. Der 4. Oktober bringt Ruandas wichtigste Wahl seit dem Völkermord.
Bürgermeisterin Mukansanga erklärt den Ablauf: „Die Bevölkerung kommt zunächst in der kleinsten Verwaltungseinheit zusammen – den so genannten zehn Häusern. Da wählt sie jemanden, der als Richter geeignet wäre. Dann gibt es eine Versammlung auf der nächsten Verwaltungseinheit – der Zelle (durchschnittlich ca. 900 Menschen). Dort bestätigt die Bevölkerung, dass die zuvor Gewählten Inyangamugayo sind. Sie können sie auch ablehnen; es reicht, dass einer dagegen ist, damit jemand nicht bestätigt ist.“
Die Gewählten sind für Völkermordprozesse der einfachsten Kategorie zuständig – Anklagen wegen Zerstörung von Gütern. Sie wählen später unter sich Richter für höhere Gacaca-Gerichte aus, vor denen schwerere Fälle gehört werden. Ausgenommen von Gacaca sind Angeklagte, denen die Todesstrafe droht – Planer und Organisatoren sowie besonders eifrige Täter. Die Gacaca-Richter können bis zu lebenslange Haft verhängen, was für vorsätzlichen Mord gilt. Sie können auch Haft zum Teil in gemeinnützige Arbeit umwandeln.
„Wir brauchen Heilige“
Abstrakt gesehen ist das alles unproblematisch. Aber viele Beobachter haben konkrete Bedenken – zum Beispiel, dass die Auswahl der Richter ungeschriebenen politischen Kriterien wie Regierungsnähe unterliegen könnte. „Die Leute fürchten, dass die Wahl politisiert wird“, sagt Noel Twagiramungu, Leiter der Menschenrechtsorganisation LDGL (Menschenrechtsliga der Großen Seen), die die Wahl am Donnerstag beobachten will. Mutabazi sorgt sich: „Gewisse Personen könnten gezielt herausgedrängt werden.“
Amtsträger sehen solche Bedenken nicht ein. „Klar, wenn jemand kontrovers ist, wird er nicht berufen“, erklärt der Präfekt von Gitarama, Fulgence Nsegiyumva. „Wir brauchen Heilige. Aber das ist nicht schwer. Die Leute gibt es schon, man muss sie nur aussuchen.“ Der Präfekt macht sich eher praktische Gedanken über den Donnerstag: „Die Leute müssen den ganzen Tag bleiben und werden müde werden. Man wird einfach irgendjemanden vorschlagen, damit es schneller geht.“
Politisierung, übereilte Entscheidungen – das macht auch jenen Sorgen, denen die Prozesse vielleicht am meisten bedeuten: den wenigen Tutsi, die den Völkermord überlebten. Sie sind bereits von Ruandas Regierung enttäuscht, weil sie bis heute keine finanzielle Wiedergutmachung bekommen haben. Nun befürchten sie, auch bei den Gacaca-Wahlen in die Außenseiterrolle zu gelangen, weil andere sie für voreingenommen halten könnten.
„Es gibt viele Ängste“, berichtet LDGL-Chef Twagiramungu vom Sonderkongress des Völkermord-Überlebendenverbandes „Ibuka“ am vorletzten Wochenende zum Thema. „Die Überlebenden verstehen die Gacaca-Prozesse nicht. Wenn es darum geht, die Gefängnisse zu leeren, sind sie dagegen. Und wenn die Richter keine Entschädigung für die Opfer festlegen können, sehen sie keinen Sinn darin.“
Manche Stellungnahmen der Regierung klingen tatsächlich so, als wolle die Regierung mit Gacaca weniger die Vergangenheit neu aufrollen als unter sie einen Schlussstrich ziehen. Augustin Nkusi, Leiter der staatlichen Gacaca-Kommission, wies letzte Woche darauf hin, dass Ruanda jährlich eine Million Dollar für seine Gefängnisse ausgebe, die lieber in Entwicklungsprogramme fließen sollten. Nach der Richterwahl solle daher alles ganz schnell gehen. Die neuen Richter werden auf Fortbildung geschickt; die ersten Prozesse dürften im Februar 2002 beginnen. Und nach drei Jahren ist alles vorbei.
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