: Die Löffel der Väter
2.000 niederländische Zwangsarbeiter mussten in den ehemaligen Borsigwerken Waffen schmieden. Ein Künstlerprojekt dokumentiert nun ihre Spuren
von PETRA WELZEL
Der Aluminiumlöffel steckte immer in den Kartoffeln. René Klarenbeeks ganze Kindheit durch. Und wenn er nicht in der dampfenden Schüssel steckte, stand sein Vater auf und holte ihn. Vorher konnte er nicht essen. Als Jaap Klarenbeek – der Vater – starb, erbte René seinen Löffel und fragte sich, was es mit diesem ollen Ding auf sich hat.
Er ist weder schön noch wertvoll. Verbogen. Jaap Klarenbeek war 18 Jahre alt, als er den Löffel 1943 in den Berliner Borsigwerken in die Hand gedrückt bekam. Es war der einzige Gegenstand während kläglicher Mahlzeiten, an dem er sich die nächsten zwei Jahre klammern konnte, in denen er als Zwangsarbeiter aus den Niederlanden in den Tegeler Rüstungswerken Waffen für die deutsche Kriegsmaschinerie schmiedete. 1943 hatte die Wehrmacht rund 600.000 junge Holländer zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. 30.000 der jungen Männer ließen bei diesem Zwangseinsatz ihr Leben. In Alt-Tegel kamen damals auf 6.000 Einwohner 20.000 Zwangsarbeiter, darunter 2.000 Holländer. Jaap Klarenbeek war einer von ihnen.
René Klarenbeek wusste über diese Zeit nur Ungefähres, als sein Vater starb. Gemeinsam machte er sich mit der aus Berlin stammenden und heute in Den Haag lebenden Künstlerin Sabrina Lindemann auf die Suche nach noch lebenden Exkollegen der Borsig-Jahre in den Niederlanden. Suchten auch in Tegel nach Zeitzeugen. Menschen, die sich noch an die Tage erinnern konnten, als ihr Stadtteil einem Zwangsarbeiterlager glich. Sie wurden fündig, sammelten Erinnnerungen, zeichneten Gespräche auf, hatten eine Idee.
René Klarenbeek mietete sich einen Leiterwagen, befestigte darauf zwei Plakatwände – Billboards – und fuhr ab Anfang September damit durch Tegel, um sie mit Hilfe der Menschen auf der Straße zu bemalen. Jeden Tag zwei großformatige Plakate, auf denen die Erinnerungen, Meinungen, der Gedankenaustausch an der Bordsteinkante mit dickem Pinsel aufgetragen wurden. Abends fotografiert und dann anderntags wieder mit neuen Bildern übermalt. Sabrina Lindemann organisierte mit Jugendlichen aus Tegeler Schulen das „Mobile Institut für Spurensuche“. Ihre Workshops nannten sie „Ich sehe was, was du nicht siehst“ und „Du siehst was, was ich nicht sehe“. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.
An diesem Wochenende sind die Billboards und die Dokumente der Schüler im Projektraum der Borsigwerke in einer vorläufigen Ausstellung zu sehen. Im Internet ist unter www.der-loeffel-meines-vaters.de das gesamte Projekt dokumentiert, im Frühjahr 2002 werden alle Resultate in einer umfassenden Schau in Räumen auf dem ehemaligen Gelände der Borsigwerke präsentiert werden.
Seine Spuren hat das Projekt aber in Tegel schon längst hinterlassen. Rudi Gehrig, ein Tegeler Zeitzeuge hat sich an allen Workshops beteiligt. „Ich bin absolut begeistert“, sagt er immer wieder, „dass sich junge Leute für diese Zeit damals so interessieren. Vor allem jetzt, wo es um die Frage der Zwangsarbeiterentschädigungen geht, ist das sehr wichtig und erfreulich.“ Der Rentner und ehemalige Borsigmitarbeiter erinnert sich noch genau an die niederländischen Zwangsarbeiter. Mit einem von ihnen war er sogar so etwas wie befreundet. Auf dem Weg zur Arbeit traf und unterhielt man sich. Und als er 1945 ausgebombt wurde, seine Eltern verschollen waren, da bot ihm sein holländischer Freund an, mit in seine niederländische Heimat zu gehen. Rudi Gehrig blieb, den Freund sah er niemals wieder.
„Das ist so lange vorbei, und wir haben jetzt Dinge zu erledigen, die wichtiger sind“, diktierte ein 70-Jähriger René Klarenbeek auf eines der Billboards. Für Rudi Gehrig ist es nie vorbei. Auch nicht für die fünf niederländischen Zwangsarbeiter, die Ende September auf Einladung der Künstler und der Borsigwerke nach Berlin kamen. Philipp Engel, ein 79-jähriger alter Mann, wollte nicht noch einmal nach Tegel kommen. „Hier hat sich so viel verändert, es ist schwer für mich, wieder hier zu sein. Aber ich musste herkommen, um damit abschließen zu können“, sagte er angesichts der letzten Backsteingebäude, die heute im schicken Glanz von Einkaufstempeln strahlen.
Und eine Tegeler Lehrerin erzählte dabei von dem Holzlöffel ihres Vaters aus belgischer Gefangenschaft. Sie hatte sich ihn als Geschenk zur Hochzeit gewünscht, aber nur als Foto bekommen: „Hätte er seinen Löffel nicht mehr, würde ein Teil seines Lebens verloren gehen.“
Ausstellung, heute und morgen, Am Borsigturm 13, 12–18 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen