piwik no script img

wie ich plötzlich heimatlos wurde

von MICHAELA KIRSCHNER

Seit zwei Jahren bin ich Neuberlinerin. Neuberliner ist man, wie ein Berliner mir erklärt hat, sieben Jahre lang. Erst dann gehört man richtig dazu. Davor lebt man in Berlin, kommt aber aus dem Umland. Entweder aus New York oder aus West-, Ost- oder Süddeutschland. Ich komme aus Süddeutschland, aber seit einer Woche bin ich heimatlos.

Ich bin deswegen heimatlos, weil mir die Süddeutschen fremd geworden sind. Nicht allmählich, schlagartig. In der vergangenen Woche nämlich. Da habe ich einen Freund im Schwabenland besucht. Zur Orientierung: In Süddeutschland leben Schwaben, Badener und Bayern. Die Bayern sind die, die nach dem 11. September ein Oktoberfest feiern. Die Badener sind die, die in diesen schweren Zeiten Wein anbauen. Die Schwaben sind die mit dem Lichtschalter.

Wenn man bei meinem Freund im Keller Licht anknipsen will, geht das gar nicht. Die Glühbirnen funktionieren, die Sicherungen auch. Es geht deshalb nicht, weil sich der Schwabe für eine merkwürdige Vorgehensweise entschieden hat: In Mehrfamilienhäusern gibt es in jeder Wohnung einen Schalter, mit dem jede Mietpartei den Lichtschalter im Keller fernsteuern kann. Bevor ein Schwabe in den Keller geht, drückt er auf den Kellerlichtanschalter in seiner Wohnung und aktiviert damit den Kellerlichtschalter im Keller. Mit diesem Zwischenkreislauf beugt er der Verschwendung vor – der Verschwendung auf seine Kosten. Ohne Kellerlichtan- und -abschalter könnte es nämlich passieren, dass ein Nachbar im Keller stundenlang sein Fahrrad putzt oder in alten Kartons stöbert oder es dort (bei Licht!) mit seiner Frau treibt. Bei alledem würde Gemeinschaftsstrom fließen, der später der betreffenden Mietpartei nicht in Rechnung gestellt werden könnte. Könnte man Strom trennen wie Müll oder beim Elektrizitätswerk und wie bei der Telekom eine Einzelverbindungsübersicht anfordern, würde sich der Schwabe den Kellerlichtan- und -abschalter vielleicht sparen. Aber so.

Überhaupt ist mir bei meinem Besuch in der vergangenen Woche aufgefallen, dass den Schwaben, dem ja wegen seiner Sparsamkeit eine Seelenverwandtschaft mit dem Schotten nachgesagt wird, nur Dinge beschäftigen, die niemanden interessieren. Seit dem 11. September ist das noch peinlicher, und es fällt noch mehr auf. Jedenfalls hat sich, seit ich das mit dem Lichtschalter weiß, ein tiefer Graben aufgetan zwischen Süddeutschland und mir. Ich habe geweint vor Lachen, und ich finde, man sollte über die Gepflogenheiten in seiner Heimat nicht lachen. Nicht so. Dieses Lachen war kein Ausdruck von Zugehörigkeit, sondern von Distanz, ja von Arroganz. Dieses Lachen hat mich heimatlos gemacht. Leider gibt es für mich momentan als Heimat keine Alternative. New York: zu gefährlich. West- und Ostdeutschland: zu fremd. Bliebe noch Baden (wo ich aufgewachsen bin) und Bayern (wo meine Eltern herkommen). Dort Zuflucht zu suchen wäre ein Rückschritt, abgesehen davon, dass ich es gar nicht will. Ich will Berlinerin werden. In fünf Jahren ist es so weit.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen