: Wo Istanbuls Afghanen leben
Im Viertel Zeytinburnu findet sich ein zentralasiatischer Mikrokosmos im Exil
ISTANBUL taz ■ Es schien einfach: „Zeytinburnu, Straße Nummer 13“. Dort sollte der Afghanisch-Türkische Sozialverein zu finden sein, die derzeit wichtigste Anlaufstelle für afghanische Flüchtlinge in der Türkei. „Straße Nummer 13?“ Der Händler an der Ecke wiegt den Kopf und meint: „Hier gibt es viele Straßen Nummer 13, in welchem Viertel soll denn das sein?“ Als er hört, dass man die Afghanen suche, weiß er scheinbar Bescheid. Ein paar Ecken und Fragen weiter findet sich eine versteckt liegenden Moschee. Etliche Männer aus Afghanistan sind da, allerdings haben sie mit dem Hilfsverein nichts zu tun. Sie empfehlen eine andere Moschee fahren, die „Taș Cami“, da wäre etwas zu erfahren.
Zeytinburnu wurde auf einer Brache vor den historischen Stadtmauern Istanbuls hochgezogen und ist eine Mischung aus Slum, billigstem Plattenbau und wild wuchernden Industriearealen. Eingezwängt zwischen S-Bahn und Stadtautobahn, hat sich hier abseits des urbanen Leben Istanbuls und weitgehend unbemerkt vom Rest der Stadt, ein weit verzweigtes Netz von Einwanderern aus den zentralasiatischen Turkrepubliken gebildet, das jetzt den afghanischen Flüchtlingen zugute kommt. Vom turkmenischen Schuster über den usbekischen Krämerladen erschließt sich Schritt für Schritt der zentralasiatische Mikrokosmos Istanbuls. Mehr als 5.000 afghanische Familien leben allein laut offiziellen Angaben in Zeytinburnu.
Als die „Taș Cami“ endlich gefunden ist, stellt sie sich als Zentrum der Turkmenen heraus. Männer wie aus dem Bilderbuch der Seidenstraße, mit den typischen hohen Wangenknochen, mongolisch geschnittenen Augen und weißen Bärten, die sich im Garten der Moschee die Zeit vertreiben, zucken bedauernd die Schultern. Erst der Uzbeke im Kramladen gegenüber, weiß wirklich Bescheid. Der Afghanen-Verein ist in einem benachbarten Viertel, auf der anderen Seite der S-Bahn.
Dort hocken mehrere Männer in einem winzigen Raum um einen Schreibtisch und reden über die Situation an der Heimatfront. Es sind uzbekisch-stämmige Afghanen entweder aus Stadt und Region Masar-i Scharif. Der Vereinsvorsitzende Serdar Rahmanoglu ist Ingenieur für Radio-und Fernsehtechnik und hat bis zur Eroberung Masar-i Scharifs durch die Taliban 1998, an der dortigen Universität unterrichtet. Den Verein habe man gegründet, um den neuankommenden Landsleuten bei den Behörden, bei der Wohnungs- und Jobsuche zu helfen. „Viele wollen zwar weiter nach Europa“, meint Rahmanoglu, „aber die meisten bleiben doch hier hängen.“
Im Verein herrscht ein ständiges Kommen und Gehen von Leuten die Dokumente übersetzen lassen wollen, sich nach Freunden erkundigen oder einfach einen Tee trinken wollen. En passent schaut auch die Polizei rein, doch die Brüder und Schwestern aus Zentralasien werden eher wohlwollend behandelt. Vor allem die usbekische Minderheit aus Afghanistan wird von Ankara aus unterstützt.
General Dostum, dessen Truppen im Moment Masar-i Scharif belagern und auf deren Erfolg die USA zunehmend dringlicher hoffen, war bis vor wenigen Monaten in der Türkei im Exil. Im Versammlungsraum hängen Fotos, die ihn als Teilnehmer der Eröffnungsfeierlichkeiten des Sozialvereins zeigen. Sein jüngerer Bruder Kadir Dostum ist noch in Ankara und hält dort die diplomatische Stellung. Offenbar ebenfalls mit Erfolg, denn kürzlich gab der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit bekannt, man habe die gesamte afghanische Opposition, samt Vertreter des Königs aus Rom, zu einem Treffen nach Istanbul eingelanden. Das Treffen soll nächste Woche stattfinden und Vorentscheidungen für eine Nach-Taliban-Regierung treffen.
In Zeytinburnu warten die Afghanen gespannt, ob tatsächlich alle kommen werden. Für wenige Tage dürfen sie sich dann im Mittelpunkt der Weltpolitik fühlen. JÜRGEN GOTTSCHLICH
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