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Wer Masar-i-Scharif hält, ist Herrscher im Norden

Die Stadt im Norden Afghanistans, die sich seit 1998 in den Händen der Taliban befindet, ist strategisch, politisch und wirtschaftlich von Bedeutung

DELHI taz ■ Seit Wochen versuchen die usbekischen Milizen von General Raschid Dostam, den Taliban die nordafghanische Stadt Masar-i-Scharif zu entreißen. Trotz guter Geländekenntnisse ist es ihnen bisher nicht gelungen, sich der Stadt auch nur zu nähern. Sogar der Flugplatz, 22 Kilometer östlich von Masar, ist immer noch in den Händen der Verteidiger. Und das trotz der kontinuierlichen Bombenangriffe durch US-Flugzeuge, die von Luftwaffenbasen jenseits der Grenze zu Usbekistan aufsteigen.

Die Heftigkeit der Kämpfe zeigt, dass es um mehr als nur strategische Vorteile geht. Die sind ohnehin gering. Der Flugplatz liegt weit außerhalb der Stadt, und die wichtige Straßengabelung von Taschkorghan, wo sich die Ost-West- und die Nord-Süd-Achsen kreuzen, weitere 50 Kilometer östlich, ebenso die (stillgelegte) Erdölleitung aus der früheren UdSSR nach Kabul.

Der hartnäckige Widerstand der Taliban verweist auf die politische Bedeutung der Stadt. Wer Masar hält, darf sich als Herrscher über Nordafghanistan bezeichnen. Das zumindest tat Dostam. Vor fünf Jahren, als die Stadt noch in seinen Händen war, hingen an den Balustraden der Wohnhäuser Schilder, die auf Persisch und Englisch ankündigten, dass man vor dem „Außenministerium“, „Erziehungsministerium“ oder „Gesundheitsministerium“ stand. Selbst eine „Central Bank of North Afghanistan“ hatte sich im Niemandsland der Neubaublocks eingerichtet.

Es war der erste Versuch Dostams gewesen, angesichts der Konsolidierung der Macht der Taliban in Kabul sein Territorium abzustecken. Dostam drohte, Masar eher zur Hauptstadt einer eigenen „Republik“ zu machen, als sie von den sunnitischen Paschtunen des Südens beherrschen zu lassen. Er hatte bereits eine eigene Währung eingeführt und ließ am Flugplatz neben der afghanischen Fahne eine eigene aufziehen. Ein Jahr später war der Traum ausgeträumt, Dostam lebte im türkischen Exil, und die Islamschüler nahmen 1998, in einem zweiten Anlauf, die Stadt ein, um sich bis heute nicht mehr vertreiben zu lassen.

Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der Dostam Masar-i-Scharif zur Hauptstadt gemacht hatte, sehen die Taliban die Stadt heute als Symbol ihrer Machtstellung im widerspenstigen Norden. Was Masar an strategischer Bedeutung abgeht, kompensiert es mit kulturellem und historischem Gewicht.

Unter der staubigen und löchrigen Ost-West-Achse, die die Stadt durchquert, liegt irgendwo die Trasse der sagenumwobenen Seidenstraße. Wenige Kilometer westlich liegt das Dorf Balkh – einstmals die stolze Hauptstadt Baktriens. Der Geburtsort des persischen Propheten Zarathustra hatte die Armeen Alexanders und die Reiterstürme von Dschingis Khan aufgehalten. Dessen Bewohner waren die Finanziers der Handelskarawanen zwischen China und Europa.

Nach der islamischen Eroberung hatte Balkh an Bedeutung verloren, bis Ende des 15. Jahrhunderts ein Sufi-Meister im Traum das „edle Grab“ („Masar-i.-Scharif“) von Ali, dem Schwiegersohn des Propheten, in einem benachbarten Dorf verortete. Über dem Grab wurde die berühmte Moschee errichtet, deren blaue Keramikkacheln über die Schachtelhäuser des Bazsars in die Weite leuchten. Masar-i-Scharif wurde zum religiösen Zentrum Afghanistans, jährlich zog die Stadt mehrere hunderttausend schiitische Pilger an. Dann kam der Krieg gegen die Sowjets, gefolgt vom Bürgerkrieg und der Besetzung durch die sunnitischen Taliban.

Das Ausbleiben der Pilger konnte der Stadt ihre politische Bedeutung nicht nehmen. Kriegsbedingte Bevölkerungsverschiebungen führten aber dazu, dass die mehrheitlich usbekische Stadt zunehmend zum Abbild der ethnischen Vielfalt des Nordens wurde: mit Tadschiken, Turkmenen, Hasaras und auch Paschtunen als Einwohnern.

Die Nähe zu ehemaligen Sowjetrepubliken hatte dafür gesorgt, dass der Stadt länger als anderen afghanischen Zentren gewisse soziale Errungenschaften erhalten blieben. Vor fünf Jahren liefen zwar selbst die Studentinnen der einzigen Universität der Region verhüllt durch die Straßen. Doch sobald sie den Campus betreten hatten, warfen sie die Burka über eine Stuhllehne und scherzten und diskutierten frei mit ihren männlichen Kommilitonen. Mit Make-up und Nagellack demonstrierten sie den Fortbestand einer gewissen Liberalität. Es gab auch eine Reihe von Professorinnen, ein Überbleibsel aus der egalitären Zeit der sowjetischen Besatzung, als Afghanistans Lehrkörper weit mehr Frauen als Männer zählte.

Seit dem Einzug der Taliban ist nicht nur der Lippenstift verschwunden. Auch die Erdgasleitung, die vor den Toren Masars beginnt, ist leer. Dostam hatte 1996 Reparaturen angekündigt, nachdem die Sowjets sie stillgelegt und die Mudschaheddin sie an mehreren Orten beschädigt hatten. Die Taliban kümmerten sich nicht um sie, denn die Pipeline führt in das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion – der Erdgasexport hatte Afghanistan während der Sowjetzeit vorübergehend sogar eine positive Handelsbilanz beschert. Die Erdgas- und Erdölfelder zwischen Masar und Schiberghan, hundert Kilometer westlich, machen aus dieser Region die einzige Industriezone Afghanistans.

Es ist dieses wirtschaftliche Potenzial der Region um Masar-i-Scharif, das die Stadt trägt. Zwar sind alle Förderanlagen längst stillgelegt, aber die Reserven schlummern weiter unter dem Boden der Steppe. Vor fünf Jahren prangte an einem Haus der Hauptstraße von Masar auch die stolze Aufschrift „Ministry of Hydro carbons“. Das Büro dahinter bestand dann aber nur aus einem Tisch, einem Stuhl, einem nicht funktionierenden Telefon und einem Samowar zum Teekochen. BERNARD IMHASLY

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