: „. . . nur auf Papier“
„Demokratie fällt nicht vom Himmel“: Ein Gespräch mit dem kamerunischen Schriftsteller und Menschenrechtsaktivisten Mongo Beti über Neokolonialismus, die Zukunft seines Landes und das Radio als Literaturvermittler – entstanden kurz vor Betis Tod
von SABINE VOGEL
Das Interview mit Mongo Beti fand am 13. Februar 2001 statt, im Hinterzimmer seiner Buchhandlung „Librairie des Peuples Noirs“ in Kameruns Hauptstadt Jaunde. Viele Fachbücher zur politischen und wirtschaftlichen Situation Afrikas stehen in den Regalen, die belletristische Abteilung mit afrikanischen Autoren ist hingegen ziemlich klein.
taz: Herr Beti, welche Bedeutung hat die Literatur in Kamerun?
Mongo Beti: Literatur und auch die anderen europäischen bürgerlichen Kunstformen wie bildende Kunst oder klassische Musik spielen in Kamerun nur eine geringe Rolle. Das hat ganz praktische Gründe: Papier wird in Kamerun nicht hergestellt. Es muss importiert werden und ist entsprechend teuer. Die meisten Bücher werden im Ausland gedruckt, was sie für viele Menschen hier fast unerschwinglich macht. Es gibt allerdings einen ausgedehnten Gebrauchtbuchhandel auf den Märkten, der das zum Teil ausgleicht.
Gibt es weitere Gründe?
Es gibt in Kamerun keine Tradition des Redens über Literatur, des Sichverständigens auf der Grundlage literarisch verarbeiteter Realität. Die Literaturkritik hat sich im 18. Jahrhundert in Europa entwickelt – und zwar als Ausdrucksmittel einer speziellen Gesellschaftsschicht: des Bürgertums. Darüber denkt heute in Europa niemand mehr nach, doch in Afrika gab es bisher noch keine gesellschaftliche Gruppe, die sich auf diese Weise über ihre nationale oder ethnische Zusammengehörigkeit verständigt hätte. In Europa erhält Literatur ihre Bedeutung aus der Wertschätzung der bürgerlichen Öffentlichkeit. Vermittlungsagenturen sind die Medien, wie Literatursendungen in Radio und Fernsehen und Kritiken in Zeitungen und Zeitschriften. Bibliotheken und Buchhandlungen stehen zur Verfügung. In Kamerun gibt es kein Bürgertum, das literarische Bildung als Wert ansieht. Es gibt keine Strukturen, die zur Entstehung und Verbreitung von Literatur nötig sind. Es ist eine afrikanische Gesellschaft, keine europäische.
Dennoch gibt es Schriftsteller.
Dass es in Kamerun doch einige Autoren und Leser gibt, ist eine Folge der Kolonialisierung, es ist eine importierte Kulturform. Man weiß, dass Schriftsteller in Europa wichtige Personen sind. Und viele junge Kameruner wollen Schriftsteller werden wegen des Prestiges, das mit diesem Beruf verbunden ist. Doch das Prestige ist ebenfalls importiert. Um in Kamerun als Schriftsteller Erfolg zu haben, muss man in Frankreich erfolgreich sein, wie die Autorin Calixthe Beyala. Erst nachdem ihre Bücher in Frankreich verlegt und rezensiert worden waren, berichteten die Zeitungen in Kamerun darüber, und erst jetzt werden sie hier gelesen.
Welche Möglichkeiten gibt es, das Interesse für Literatur zu stärken?
Die privaten Radiostationen, von denen es seit Jahresanfang ein halbes Dutzend gibt, könnten eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Literatur spielen. Das Radio ist hier in Kamerun ein sehr wichtiges und weit verbreitetes Kommunikationsmittel. Fast jeder besitzt eines und trägt es mit sich herum. Auf dem Markt sind sie für wenig Geld zu kaufen. Man könnte Sendeplätze einrichten, an denen neue afrikanische Literatur vorgelesen wird. Es wäre viel billiger, als Bücher zu drucken, und außerdem könnte man so ein Publikum erreichen, das sonst gar keine Bücher kaufen würde. Bisher gibt es nur einige wenige Sendungen, in denen Neuerscheinungen besprochen werden. Literatur steht bei den Journalisten nicht sehr hoch im Kurs. Politik ist das Feld, in dem sie sich profilieren wollen.
Sie erwähnten gerade, dass die privaten Radiostationen erst seit kurzem zugelassen sind. Bieten diese Sender neue Informationen im Vergleich mit den staatlichen Rundfunkstationen?
Eigentlich nicht – vielleicht: noch nicht. Im Moment überwiegen noch die Musik- und Ratgebersendungen, bei denen die Hörer sich mit ihren Wünschen und Problemen an die Moderatoren wenden können. Es ist wirklich ein „radio de proximité“ (Nachbarschaftsradio). Aber es kann noch politischer werden. Außerdem ist es ein Medium, das der Sprachenvielfalt Kameruns Rechnung tragen kann. Von den über 250 Sprachen, die im ganzen Land gesprochen werden, sind viele in der Hauptstadt Jaunde vertreten. Die großen Sprachgruppen haben ihren eigenen Sendeplatz.
Gibt es im Radio eine kritische politische Berichterstattung?
Auch das steckt noch in den Anfängen. Es gibt in Kamerun nur wenige ausgebildete Rundfunkjournalisten, und es gibt keine Tradition der kritischen Berichterstattung. Im Januar etwa fand in Jaunde das französisch-afrikanische Gipfeltreffen statt. Die Staatschefs der ehemaligen französichen Kolonien trafen sich mit Jacques Chirac zu politischen Gesprächen. Ich hatte zusammen mit meiner Frau und politischen Freunden ein Transparent vorbereitet und an der Fassade meines Buchladens angebracht, auf dem wir die Abholzung des kamerunischen Regenwaldes durch die Familie Chiracs kritisierten. Das erste Transparent hing fünf Minuten, das zweite wurde von der Polizei beschlagnahmt, während wir es aufhängten, und das dritte liegt noch immer hier. Wir hatten die Presse gebeten zu kommen, als wir das Transparent zum dritten Mal aufhängen wollten, damit sie das Eingreifen der Polizei dokumentierte. Doch kein Journalist kam zum vereinbarten Zeitpunkt.
Was hat Chirac mit dem kamerunischen Wald zu tun?
Die Familie Chiracs besitzt seit der Kolonialzeit einen großen Teil unseres Regenwaldes. Sie holzt ihn ab und exportiert die Baumstämme. Tag für Tag schrumpft der Wald um mehrere Hektar. Es gab den Plan, es gab sogar schon ein Gesetz, die Tropenhölzer hier im Land weiterzuverarbeiten, um den Profit aus der Veredlung des Rohstoffs im Land zu halten. Doch Chirac machte seine Teilnahme am französisch-afrikanischen Gipfel davon abhängig, dass dieses Gesetz zurückgezogen wurde. Er setzte sich durch, und so kann er weiterhin Profit aus Frankreichs ehemaliger Kolonie ziehen.
Ganz ähnlich ist die Situation bei unserem zweiten Rohstoff: Erdöl. Es wird von dem französischen Konzern Elf gefördert und verkauft. Die Unabhängigkeit Kameruns steht nur auf dem Papier. Dasselbe gilt für alle ehemaligen französischen Kolonien. Sie sind nicht souverän, sondern Satellitenstaaten Frankreichs.
Wie verhält sich die kamerunische Bevölkerung, regt sich Widerstand?
Ja, es entsteht eine Bewegung gegen die Fortdauer der kolonialen Ausbeutung in postkolonialen Zeiten. Meine Buchhandlung hier ist einer der Treffpunkte dieser Gruppe. Doch die Lage der Oppositionellen ist schwierig. Kamerun ist kein demokratischer Rechtsstaat, sondern eine Diktatur, die zudem von Frankreich kontrolliert wird. Die kamerunische Polizei arbeitet eng mit der französischen Polizei zusammen. Widerstand zu leisten ist für „normale“ Bürger gefährlich. Bekannte Personen wie ich sind in einer besseren Position. Die Angst vor der Wirkung im Ausland schützt uns vor Übergriffen der Polizei. Nur unbekannte Leute werden getötet.
Sehen Sie eine Chance, dass sich die Lage Kameruns bessert?
Eigentlich sind die Voraussetzungen nicht ganz schlecht: Kamerun ist reich an Rohstoffen und könnte wirtschaftlich unabhängig sein. Doch neben der französischen Ausbeutung gibt es auch innenpolitische Probleme. Die regierende Elite nutzt ihre Position zur persönlichen Bereicherung und zur Versorgung ihrer Familie. Korruption ist an der Tagesordnung. Aber auch in der Bevölkerung fehlt das Bewusstsein dafür, was ein Staat ist und was er leisten kann. Die Idee von gesellschaftlicher Verfasstheit, wie sie in Europa selbstverständlich ist und die allem politischen Handeln in Europa zugrunde liegt, ist ein Resultat der historischen Entwicklung Europas. Kameruner sehen sich selbst in erster Linie als Mitglied ihrer Großfamilie und in zweiter Linie als Mitglied des Dorfes, aus dem sie stammen. Als Drittes kommt die Zugehörigkeit zu einer der ethnischen Gruppen, die sich auch in der jeweiligen Sprache ausdrückt.
Gibt es so etwas wie eine kamerunische Identität?
Besonders den Schülern wird die Verbundenheit zur kamerunischen Nation und zu ihrer Fahne beim morgendlichen Appell vermittelt. Dennoch ist das Bekenntnis zu einer kamerunischen Nation für viele, außer beim Fußball, eine leere Phrase. Es ist für die Bevölkerung nicht einzusehen, was es bedeuten soll, Kameruner zu sein. Wenn ich sehe, wie viele Menschen hier aufgrund von Kinderlähmung hinken oder überhaupt nicht laufen können, dann kann ich verstehen, dass die Bevölkerung vom Staat im Hinblick auf die Verbesserung der gesundheitlichen Lage nichts erwartet. Wenn ich sehe, dass die Wahlen gefälscht werden, dass Demonstrationen verboten werden und wie das Rechtssystem funktioniert – nämlich überhaupt nicht –, dann weiß ich auch, dass es keinen Sinn hat, auf demokratische Interessenvertretung zu pochen. Wie soll man sich mit einem Staat identifizieren, dessen Amtsträger willkürlich die Interessen seiner Bürger einschränken und der Steuern nur eintreibt, um das luxuriöse Leben seiner Elite zu finanzieren?
Was müsste geschehen, damit sich die Lage des Landes verbessert?
Kamerun brauchte eine charismatische Figur wie Nelson Mandela. Jemand, der den Staat verkörpert und für eine demokratische Verfassung eintritt. Oder es brauchte ein so gutes Bildungssystem, dass es die Bürger in die Lage versetzte, selbst die Situation zu erkennen. Doch Demokratie fällt nicht vom Himmel. Wir müssen dafür leiden und kämpfen.
SABINE VOGEL, 38, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Museum, Berlin. In Kamerun hielt sie sich als Gastdozentin am Goethe-Institut auf
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