: Zonen toxischen Testosterons
In Kriegszeiten sollen die Kämpfer wenigstens gewisse Regeln respektieren. Dafür arbeitet das Rote Kreuz. Dessen Geschichte aus Sicht der Helfer erzählen Berichte, die H. M. Enzensberger publiziert hat
von RENÉE ZUCKER
Das Logo der Firma ist ein Sicherheitsrisiko. Deshalb soll aus dem gleichachsigen roten Kreuz ein auf der Spitze stehendes rotes Quadrat werden. Manchmal, und in manchen Konfliktbereichen. Ausgerechnet jenes markante Markenzeichen, das vermutlich bekannter ist als das von Coca-Cola, ist zum Problem geworden, denn trotz aller überkonfessionellen Grundsätze wird das Rote Kreuz als christlich-weiße Organisation aus dem reichen Westen wahrgenommen. Was den Tatsachen entspricht, wie Daniel Hitzig schreibt, der drei Jahre lang in Palästina und Irak war – als Mitarbeiter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK), der Dachorganisation der national organisierten Hilfsorganisationen. In „Das Kreuz mit dem Kreuz“ berichtet er, dass Überlegungen zur eigenen Sicherheit für die IKRK-Helfer immer wichtiger werden, da trotz der viel beschworenen Neutralität die Arbeit zunehmend gefährlicher wird.
Unterscheidet sich der Mensch vom Tier?
Der Wendepunkt war 1996. Immer wieder taucht dieses traumatische Jahr in verschiedenen Beiträgen auf. Im letzten und deprimierendsten Aufsatz des Buchs erfährt man von Michael Ignatieff, wie die Ermordung von sechs internationalen IKRK-Mitarbeitern in Tschetschenien vor sich ging: Sie schliefen in ihrem Krankenhaus in der Nähe von Grosny. Das Gebäude wurde von unbewaffneten Tschetschenen bewacht. Gegen Morgen drangen maskierte Männer ein und ermordeten die Schlafenden. Bis heute ist nicht bekannt, ob die Mörder Russen oder Tschetschenen waren.
Doch selbst nach diesen Morden sagte ein führender Mitarbeiter des IKRK: „Alle unsere Bemühungen beruhen auf der Überzeugung, dass der Mensch selbst inmitten der schlimmsten Entartungen des Krieges ein fundamentales Mindestmaß an Menschlichkeit bewahrt. Ereignisse wie diese machen es schwierig, diesen Glauben zu bewahren. Doch ohne ihn müssten wir eingestehen, dass den Menschen nichts vom Tier unterscheidet, und dies werden wir nicht eingestehen.“
Für Enzensberger ist seine Sammlung teils neuer, teils bereits veröffentlichter Texte ein sowohl „scharfsichtiges wie herzzerreißendes Panorama“ der modernen Geschichte – und dem lässt sich nicht widersprechen. Vor allem weil sie die Sicht der Helfer spiegelt, die sich ihrer Mission verschrieben haben. Überwältigend sind die beiden Texte von Ignatieff über „Die Ehre des Kriegers“. Im ersten, der den Band einleitet, schildert er die Entstehung der humanitären Organisation, für die Neutralität gegenüber den Krieg führenden Parteien einer der wichtigsten Grundsätze ist, und am Ende bilanziert er ernüchternd und klar das Dilemma: die Komplizenschaft des IKRK mit dem Krieg. Die Geschichte lehre, dass es sinnlos sei, von einer Welt ohne Krieg zu träumen; darum gelte es zumindest, die Krieger dazu zu bewegen, sich nach bestimmten Regeln zu verhalten. In Zeiten von Massenmorden und Konzentrationslagern, in Zeiten von Kindersoldaten und Kulturen, die Frauen nicht als Menschen ansehen, scheint selbst das mittlerweile kaum erreichbar.
„In den meisten traditionellen Gesellschaften wird Ehre mit Zurückhaltung assoziiert und Männlichkeit mit Disziplin. Im mannhaften Gebaren der alten afghanischen Kämpfer oder in der würdevollen Haltung der kurdischen peshmerga kommt eine Kriegsordnung zum Ausdruck, die auch eine Vorstellung stolzer, männlicher Identität ist. Die besondere Brutalität der Kriege der Neunzigerjahre knüpft an eine andere Vision männlicher Identität an – die der wilden Sexualität des männlichen Heranwachsenden. [. . .] Einen Kontrollpunkt in Bosnien zu überqueren, an dem Teenager mit dunklen Sonnenbrillen und eng sitzenden Tarnanzügen AK-47-Maschinengewehre schwingen, bedeutet, eine Zone toxischen Testosterons zu betreten.“
Dieses Buch romantisiert beileibe nichts und stellt eines klar: Das IKRK ist keine Menschenrechtsorganisation – es verschafft den Gesetzen des Krieges Geltung. Frauenrechte (beispielsweise in Afghanistan) werden nicht als humanitäre Frage angesehen. Die Legitimität der Organisation entsteht aus der Zusammenarbeit mit den Krieg führenden Parteien, und wenn die ihre Frauen misshandeln, hat das IKRK dies hinzunehmen. Ignatieff schreibt auch, dass das IKRK über die größten und verlässlichsten Datenbanken über die Opfer von Massakern verfügt – und sich weigert, diese Informationen an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag weiterzuleiten. Wenn die Doktrin der Neutralität und Vertraulichkeit nicht eingehalten würde, so die Argumentation, wäre die Arbeit nicht mehr möglich. Wenn Kriegsverbrecher denunziert würden, könne man deren Gefangenen nicht mehr helfen. Die humanitäre Organisation bleibt stets so sachlich und unparteiisch wie ihr Heimatland: die Schweiz. Man mag das kalt und moralisch fragwürdig finden, von Nutzen ist es für viele.
Manchmal ist einer zum Glück nicht neutral
Nur manchmal vergisst einer einfach die Neutralität, so wie der Bankangestellte Louis Haefliger aus Zürich. Der hatte sich im April 1945 beurlauben lassen, um als Freiwilliger eine Lastwagenkolonne mit Lebensmitteln und Medikamenten in das KZ Mauthausen zu begleiten und die Heimführung von Häftlingen in die Wege zu leiten. In einer gewagten Einzelaktion gelang ihm die Rettung von 60.000 Häftlingen noch vor Kriegsende. Alle, ob Häftlinge, Amerikaner oder Russen, danken und lieben Louis Haefliger. Alle, außer dem IKRK, wie Andreas Doepfner schreibt. Zwar wird seine Leistung als „mutig und kaltblütig“ anerkannt, er selbst wird jedoch als Abenteurer geschmäht – so, wie man es seinerzeit schon mit Henri Dunant gemacht hatte, dem ebenfalls als „Spinner“ abgetanen Gründer der Organisation. Erst Ende der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts wurde er rehabilitiert. Das Komitee vom Roten Kreuz hat es nicht so mit den Individualisten und Querschießern. Es möchte disziplinierte Mitarbeiter, die unauffällig, unleidenschaftlich, sachlich und neutral ihrer Pflicht nachkommen. Vieles spricht dafür, derartige Eigenschaften in chaotischen Zuständen beizubehalten – aber niemand ohne Leidenschaft und Mitgefühl würde sich in solche Zustände begeben. Das wird bei der Lektüre klar.
Ist es also doch kein Kreuz mit dem Roten Kreuz? Vielleicht. Mal sehen, was sich ändert, wenn das Emblem wechselt.
Hans Magnus Enzensberger: „Krieger ohne Waffen. Das internationale Komitee vom Roten Kreuz“. Eichborn, Frankfurt 2001, 348 Seiten, 54 DM (27,50 €)
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