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Viele Stimmen, viele Räume - Clubs in den 90ern

Wenn in gar nicht so ferner Zukunft jüngere Menschen fragen, wie das eigentlich war im Berliner Nachtleben der Neunziger, werden sie von den Altvorderen die Antwort bekommen: Toll. So viel ging vorher nicht, so viel ging danach nie wieder. Überall Bars, überall Clubs, überall leerstehende Häuser, Aufbruch, Party, DIY. Niemand brauchte fünfzehn Minuten Berühmtheit, aber jeder konnte seinen eigenen Club aufmachen – ein Raum, ein Tisch, zwei Plattenteller und ein paar Kisten Beck’s reichten. Gescheitert wurde dabei nicht an Misswirtschaft oder fehlendem Publikum, sondern weil Eigentumsverhältnisse plötzlich geklärt waren; nichts leichter aber, als woanders wieder neu anzufangen. Wer auf den Geschmack gekommen war, blieb dabei, und das Konzept vom „nomadisierenden Club“ machte die Runde: Das WMF, Cookies und 103 haben es am konsequentesten umgesetzt.

Unschön nur für die Nachwelt: Die untergegangenen Clubs existieren hauptsächlich in Erinnerungen. Wenig Handfestes gibt es, außer natürlich ein paar Flyern, aber die sind sowieso eine Gattung eigener Art. Nur selten ein Heft, eine Single und zwei Compilations, wie sie die Galerie berlintokyo veröffentlicht hat. Zum Betreiberumfeld Letzterer gehörte Martin Eberle. Als Fotograf hat er nicht nur gefeiert, sondern sich die Jahre über daran gemacht, Bleibendes zu schaffen und viele der berühmtesten und schon legendären Clubs der Neunziger von außen und innen fotografiert.

Resultat ist der schöne Fotoband „Temporary Spaces“, der sie noch einmal alle versammelt: die Clubs, die aus Berlin die Clubhauptstadt gemacht haben, die Clubbing zu einer Lebensform werden ließen. Jene, die es in die Nullerjahre geschafft haben wie Bastard, 90 Grad, Roter Salon; jene, deren Ende abzusehen ist wie Maria, WMF (Ziegelstraße), Tresor. Vor allem aber jene, die nicht länger als ein paar Monate existierten, oder, wenn es besser lief, zwei oder drei Jahre; Clubs wie die Galerie berlintokyo, wie das Ibiza, das Panasonic oder das Dirt.

Gerade wenn man die Fotos Letzterer anschaut, merkt man, wie intensiv die Erfahrungen waren, wie schnell sich die Erinnerungen einstellen und auch ein wenig Melancholie. Hier war der Spaß am allergrößten (Ja, nicht die Achtziger waren das Jahrzehnt, in dem der Spaß am allergrößten war, sondern die Neunziger!), hier wurden zahlreiche neue Projekte ersonnen (ja, das Netzwerk, auch so ein Begriff, eine Lebensform aus den Neunzigern), hier wurden Freundschaften geschlossen, Feindschaften beigelegt, Lieben geboren und mehr.

Zusätzlich erleichtert wird diese Erinnerungsarbeit durch kurze Clubsteckbriefe und Eingebungen von zahlreichen Clubbesuchern: „War den einen Sommer sehr schön und gar nicht mal so Mitte-Schischi, aber die Drinks fast immer warm“; „Ich fühlte mich immer sehr zu Hause“; oder: „Den Laden habe ich nie verstanden.“ Natürlich fragt man sich zuweilen, was man ausgerechnet an Low-Budget-Höhlen wie dem Dirt oder St. Kildas so anziehend fand; doch viele Fotos zeigen, dass fast jeder Club für sich allein und auch ohne Publikum ein Gesamtkunstwerk war – nicht umsonst trat so mancher von ihnen eine Reise an und durfte sich in Paris, Kassel, New York oder Hannover ausstellen. Eine Bürde für die Zukunft: Die Clubkultur der Nullerjahre dürfte es schwer haben dagegen. GERRIT BARTELS

„Temporary Spaces“ by Martin Eberle, Die Gestalten Verlag, Berlin, 78 DM

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