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Alles eine Frage der Ehre

Vor dem ersten Relegationsspiel gegen die Ukraine heute in Kiew sind die deutschen Fußballer einem kollektiven Psychoterror ausgesetzt, der nach Teamchef Völlers Wunsch rettende Tore bewirken soll

von MATTI LIESKE

Zeiten der Not sind auch Zeiten der Hilfeschreie. Wenn es in deutschen Landen mal wieder fußballerisch im Argen liegt, richten sich diese zumeist an irgendeinen betagten und retirierten Kicker, der plötzlich wie ein Deus ex Machina herniedersteigen und dafür sorgen soll, dass alles gut wird. Vor der WM 1978 traf es Jürgen Grabowski, 1982 Paul Breitner, in neuerer Zeit wurden dann Rudi Völler 1994, Lothar Matthäus 1998 und Thomas Häßler vor der EM 2000 als Retter herbeigefleht. Nur Grabowski war klug genug, sich zu verweigern, gebracht hat die Reaktivierung vermeintlicher Heilsbringer nie wirklich etwas. Rudi Völler weiß das am besten, weshalb er sich jetzt, da die Qualifikation zur WM 2002 in Japan und Südkorea auf Messers Schneide steht, dem kollektiven Ruf nach Ulf Kirsten, einem Stürmer, der bald 36 wird und im (west-) deutschen Nationalteam nie Bäume ausgerissen hat, beharrlich verweigert. Nach dem 0:0 gegen Finnland, das der DFB-Mannschaft die Relegationsspiele gegen die Ukraine einbrockte, deren erstes heute in Kiew (18 Uhr, SAT 1) stattfindet, wurde der sonst so sanftmütige Teamchef sogar ungewohnt barsch. Auf die Frage, warum er denn nicht einen Stürmer wie Kirsten aufstelle, der aus allen Lagen ins Tor treffe, schnappte er blitzenden Auges und gar nicht diplomatisch zurück: „Ulf trifft auch nicht aus allen Lagen ins Tor.“

Dass sich Völler nunmehr seit Wochen mit dieser albernen Kirsten-Diskussion herumschlagen muss, zeigt das geballte Misstrauen gegenüber jenen Fußballern, die der Teamchef tatsächlich berufen hat, und es bestätigt den Freiburger Trainer Volker Finke, der vorschlug, die Medien sollten doch mal eine Woche lang nicht über die Nationalmannschaft berichten. Eine andere Möglichkeit wäre es, den Nationalspielern eine Woche lang zu verbieten, Zeitungen zu lesen. Da aber beides nicht funktioniert, dürften die erwählten Fußwerker vor ihrer Reise nach Kiew eine unbekömmliche Überdosis von Appellen an ihre Ehre, Drohungen für den Fall ihres Scheiterns und Heldenerzählungen aus vergangenen Zeiten internalisiert haben: Uwes Fußspitzenspitzelei gegen Schweden, Libudas Solo gegen Schottland, Häßlers Volleyschuss gegen Wales. Tag für Tag wurden neue Zentnerlasten auf die Schultern der Spieler abgeladen und zur Bewältigung solchen Psychoterrors kann man nur hoffen, dass sie die „Leckt-mich-am Arsch“-Haltung, die ihnen so gern nach gesagt wird, tatsächlich besitzen. Zumindest der genesene Carsten Jancker, Stürmer ohne Spielpraxis, hält nicht damit hinter dem Berg, was er von der öffentlichen Erwartungsflut hält: „Auch wenn jetzt überall steht, es ist die letzte Chance, das wissen wir allein“, janckerte er giftig zurück.

„Wir müssen den Druck spüren“, sagt dagegen Rudi Völler, der jedoch sehr gut weiß, wie schnell Druck in Lähmung umschlagen kann. Wenn es noch eines warnenden Beispiels bedurfte, dann lieferten dies am Mittwoch die Brasilianer, die in ihrem vorentscheidenden Qualifikationsspiel bei den Bolivianern herumliefen wie querschnittsgelähmte Zinnsoldaten und 1:3 verloren. Doch auch die deutsche Mannschaft hat schon genügend Erfahrung mit der delikaten Balance von Nonchalance und Panik. Ging man das mit 1:5 verlorene Spiel gegen die Engländer noch viel zu siegessicher und druckfrei an, waren die Spieler gegen Finnland kaum in der Lage, den Ball nach vorn zu spielen. Im Bewusstsein, dass sich jeder abgefangene Pass fatal auswirken könnte, wurden nur die sichersten Bälle gespielt und selbst diese vor lauter Nervosität oft verpatzt. Erst der unbekümmerte Vorwärtsdrang des eingewechselten Asamoah brach den Dornröschenbann.

„Die letzten Prozentpunkte rauskitzeln“ will Rudi Völler für die beiden Ukraine-Spiele, doch selbst wenn das gelingt, ist der Erfolg noch längst nicht gewährleistet. Auch ein deutsches Nationalteam, das sein Potenzial ausschöpft, ist derzeit, wie Franz Beckenbauer treffsicher analysiert, nicht mehr als „guter Durchschnitt“. Entsprechend seltsam sind die Methoden, die der Bayern-Präsident empfiehlt: „Offensiv spielen, allerdings aus einer starken Defensive“, was nach der Taktik klingt, mit der sich Beckenbauer selbst 1986 in Mexiko durchwurstelte, „auf Sieg spielen, damit ein Unentschieden herausspringt“, was nach purem Unsinn klingt.

Für Völler und seinen Assistenten Michael Skibbe sind die beiden Partien die bisher größte taktische Bewährungsprobe, bei der es vor allem darum geht, den Stürmerstar Andrej Schewtschenko zu kontrollieren, ohne in den Fehler zu verfallen, zu glauben, dass die Ukraine nur aus Schewtschenko besteht, wie Task-Force-Oberhaupt Karl-Heinz Rummenigge gewohnt fahrlässig verkündet. Positiv für das DFB-Team, in dem Lars Ricken den verletzten Deisler ersetzen und Michael Ballack endlich bayermäßig glänzen soll, könnte sein, dass der Druck auf die ukrainischen Spieler sogar noch größer ist. Wenn die es nicht schaffen, sich gegen diese schlappen Deutschen erstmals für eine WM zu qualifizieren, darf sich keiner mehr in der Heimat blicken lassen.

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