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Geschichte hinter dicken Mauern

Hier tobte die Inquisition, hier frönte man dem militaristischen Spanien. Ávila und die allgegenwärtige Last der spanischen Geschichte – und bis heute zieht es viele junge Spanierinnen in den heiligen Hochsicherheitstrakt des Karmeliterklosters

Ávila wirkt grau und abweisend – kein Hauch von medi-terraner Leichtigkeit Schauplatz der Inquisitionstribunale. 1.500 Juden wurden hier verurteilt.

von TILL BARTELS

Exponierter könnte der Platz für den Absprung nicht sein. Aus dem Stand heraus hüpft er in die Luft, breitet seine Schwingen aus und stürzt sich in die Tiefe. Schon nach einer Sekunde hat der Wind ihn aufgefangen, lautlos kreist der Storch über dem Dächermeer und dreht nach Westen ab, zur Nahrungssuche am Ufer des Río Adaja.

Ein Dutzend Storchenpaare nistet auf den Türmen und Pfeileraufsätzen der Kathedrale von Ávila. Von ihren Nestern aus überblicken sie einen winzigen Teil der weiten kastilischen Hochebene, eine steppenartige Landschaft mit gelben Getreidefeldern und vereinzelten Steineichen, von der Sierra de Gredos im Süden begrenzt. Das Kuriose an dieser Kirche sind nicht ihre gegenwärtigen Dachbewohner – es ist die Konstruktion der Apsis. Schon im 12. Jahrhundert wurde sie beim Bau als eine rundförmige Ausbuchtung der Stadtmauer geplant: eine Kathedrale als strategisches Bollwerk auf der höchsten Erhebung der Stadt, das unübersehbare Zeichen einer frühen Allianz zwischen Kirche und Militär. Seit einem Jahr kann man direkt neben der Festungskirche diese drei Meter breite Stadtmauer wieder besteigen und auf einem längeren Abschnitt begehen. Das mittelalterliche Bauwerk gilt als die Attraktion Ávilas, denn die 2.500 Meter lange Mauer ist mit ihren 88 Türmen und 9 Toren lückenlos erhalten. Wer zwischen den Türmen und Zinnen spazieren geht – und dabei schwindelfrei sein muss – erkennt, wie sich die Wand stets der Topografie anpasst: In den ebenen Abschnitten ist die Mauer höher, am Hang sind die halbrunden Türme niedriger gebaut. Wie eine Krone aus Granit umschließt sie Ávila und hält die Altstadt fest im Griff der Geschichte.

Wer sich Ávila vom Westen her nähert, hat vom Mirador de Cuatro Postes den schönsten Blick. Hier beginnt der 48.000 Einwohner zählende Ort erst jenseits der Mauer und wirkt mit den Glockentürmen, Adelspalästen und Klöstern wie eine mittelalterliche Festung. In nur zehn Jahren Bauzeit entstand ab 1090 der Schutzwall gegen die Mauren mit seiner Doppelfunktion: als Verteidigungsanlage in Krisenzeiten und als markante Steuergrenze im Frieden.

Deutlich ist die römische Vorgeschichte Ávilas auf der Ostseite zu sehen. Zwischen der Puerta de San Vicente und der Puerta del Peso de la Harina, wo die Mauer bis zu 20 Meter in die Höhe ragt, sind Grabsteine und Quader aus der Römerzeit ins Mauerwerk eingefügt. Die einzigartige Altstadt wurde deshalb schon 1985 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.

Doch der Tourismus hält sich in der mit 1.127 Metern höchstgelegenen Provinzhauptstadt Spaniens in Grenzen, auch wenn der Ort nur eine Autostunde von Madrid entfernt ist. Das liegt am steinernen Charakter Ávilas. Der massive Granit als dominantes Baumaterial wiegt schwer. Hier wurde in den letzten Jahren nur behutsam renoviert, nichts aufgepeppt oder gar disneysiert. Ávila wirkt streng, grau und abweisend. Kein Hauch von der mit Spanien assoziierten mediterranen Leichtigkeit weht durch die Gassen. Nur während des Sonnenauf- und -untergangs, wenn die Mauern aus Urgestein das orange Licht reflektieren, zeigt die Stadt ihre warme und milde Seite. Selbst am Markttag ist die Atmosphäre weder malerisch noch farbenfroh. Das Angebot auf der Plaza del Mercado Chico beim Rathaus beschränkt sich auf Obst, Fleisch und Gemüse aus der Region. Die lokale Küche zaubert auch keine raffinierten Speisen. In den Restaurants werden deftige Gerichte aufgetischt wie Chuletón de Ávila, die scharf angebratenen und noch blutigen Rippenstücke von kastilischem Rind.

Ávila leidet unter der Last der Vergangenheit. Ihre Blütezeit erlebte die Stadt im 16. Jahrhundert. Nach der Wiedereroberung Spaniens durch die Christen und nach der Zusammenführung der beiden wichtigsten Königreiche durch die Hochzeit von Isabellavon Kastilien mit Ferdinand von Aragonien im Jahre 1469 blühte das Siglo de Oro, das angeblich goldene Jahrhundert ab 1479. Die Neue Welt wurde erobert, Inquisitionsprozesse standen auf der Tagesordnung. Heute lässt sich in Ávila diese Epoche im Dominikanerkloster Santo Tomás erahnen, dessen Gründung 1483 auf Tomás de Torquemada, den Großinquisitor, zurückgeht; es war als klösterliche Residenz der katholischen Könige gedacht. Finanziert wurde es mit konfiszierten Geldern jüdischer Bewohner.

Ein Padre in weißer Kutte ordnet am späten Nachmittag im dunklen Kirchenschiff die Altargegenstände, eine alte Frau fegt die kühlen Steinplatten. Unter der Vierungskuppel ruht Don Juan, der einzige Sohn von Isabella und Ferdinand, in einem riesigen Sarkophag aus eisigem Alabaster. Der Prinz wurde nur 19 Jahre alt und in Ávila beigesetzt. Auf der Westempore des gotischen Sakralbaus müssen sich schreckliche Szenen abgespielt haben. Hier war der Schauplatz der Inquisitionstribunale. 1.500 Juden wurden in dieser Kirche verurteilt.

Einer Zeitzeugin von damals begegnen wir im gegenwärtigen Ávila auf Schritt und Tritt. Es ist die heilige Teresa, die wichtigste Tochter der Stadt. Heute wird sie als Nationalheilige verehrt. Sie wurde 1515 als sechstes von zwölf Kindern in Ávila geboren – ihr Vater stammte aus einer Familie konvertierter Juden, der den Adelstitel käuflich erwarb – und trat als Zwanzigjährige in das Kloster María de la Encarnación vor den Toren der Stadt ein. Damals war der Orden noch weltoffen, die Nonnen durften Besuch empfangen und das Gelände für Monate verlassen. Beichte und Buße standen nicht hoch im Kurs. Teresas Ansatz hingegen war ein ganz anderer, ihre Regeln verlangten Klausur und Keuschheit sowie den Verzicht auf das Leben außerhalb der Klostermauern. Dokumente berichten von Teresas ungewöhnlichen Visionen und ekstatischen Erfahrungen. In ihren tausenden von Briefen, zahlreichen religiösen Schriften und ihrer Autobiografie „Vida“ schrieb sie von ihren mystischen Erlebnissen, ihren Begegnungen mit Jesus. Ihre poetische Kraft, die Gottesliebe und asketische Lebensweise, ihr Organisationstalent und Durchsetzungsvermögen lösen bis heute tiefe Bewunderung aus. Nur den Kirchenoberen war die Mystikerin zu Lebzeiten höchst suspekt. Bei einem Besuch Sevillas musste die Reformerin 1576 eine Überprüfung durch die spanische Inquisition über sich ergehen lassen.

Während der fast dreißig Jahre, in denen sie im Kloster Ávila auch zur Priorin avancierte, reformierte Teresa unablässig und gründete ihren eigenen Orden, den der unbeschuhten Karmeliterinnen. Binnen weniger Jahre entstanden 16 weitere Klöster über ganz Spanien verteilt. 1582, mit 67 Jahren, stirbt die schwer kranke „La Santa“, wie sie in Ávila genannt wird. 1622 wird sie heilig gesprochen, ihre sterblichen Überreste wie die Überreste ihrer Kleidung werden als Reliquien verehrt, vom Ringfinger bis zur Sohle der Sandalen. 1970 erfolgt sogar ihre Ernennung zur Kirchenlehrerin. Als Gründerin des größten kontemplativen Ordens der katholischen Kirche wird sie inzwischen weltweit respektiert.

Nur wenige Räume des Klosters La Encarnación dürfen Pilger und Touristen heute in Ávila besichtigen, etwa Teresas ehemalige Wohnzelle. Hier hängt das Bild von der Geißelung Christi, das sie geliebt haben soll, und hier ist ein Holzklotz zu bestaunen, der ihr als Kopfkissen diente. Die auf einem ehemals jüdischen Friedhof errichtete Klosteranlage ist bis heute intakt und wird von 27 Nonnen als Ort des Betens und als Arbeitsstätte genutzt. Der Kontakt zur Außenwelt beschränkt sich auf den Besuch eines Familienmitglieds pro Monat – in einem Raum mit doppeltem Sprechgitter in einer meterdicken Wand. Nur Worte und Blicke können gewechselt werden, körperlicher Kontakt bleibt – wenn überhaupt – eine Sehnsucht. Über Nachwuchsprobleme können die unbeschuhten Karmeliterinnen dennoch nicht klagen. Viele junge Spanierinnen stehen auf der Warteliste für den heiligen Hochsicherheitstrakt.

Mittelalterliche Strenge ist noch immer allgegenwärtig in Ávila. Viele Straßen sind nach Feldherren benannt. Eine heißt bis heute „Generalísimo“, womit Franco gemeint ist. Der Wendepunkt kam für Ávila bereits 1610. Unter Philipp III. wurden auch die zwangsgetauften Araber endgültig vertrieben. Vierzig wichtige Familien verließen die Stadt, bald folgte ihnen der Adel. Andere versuchten in der Neuen Welt ihr Glück, dann breitete sich die Pest aus. Ávila verarmte und fiel in einen tiefen Dornröschenschlaf, der bis heute anzuhalten scheint. Denn die Mauerstadt kultiviert ein ganz und gar anderes Spanien, weit weg von den Problemen der Gegenwart, von ETA und EU.

An eine alte Tradition anknüpfend, verkauft fast jede Bäckerei Ávilas Süßigkeiten, so genannte yemas de Santa Teresa. Trotz des vielen Zuckers und Eigelbs haben die dulces, die Kekse, auch einen bitteren Beigeschmack – den der Geschichte.

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