: In der Gefahrenzone
Das Forschergenie Alfons Brack – der Mann, der die Wahrheit zähmte
Die Suche nach Wahrheit gehört zum Menschen wie das Streben nach Glück, das Verlangen nach Ruhm oder die Jagd nach preisreduzierten Markenartikeln. „Wahrheit ist ein kostbar Gut und seltner Gast im Haus des Bürgers“, brachte Friedhelm Rückert schon 1662 die Sache auf den Punkt.
Das Problem bei der Erlangung der raren Ware war die Unzugänglichkeit der Lagerstätten. Wahrheit kommt in Europa nur in vulkanisch geprägten Gegenden vor, vor allem im Harz, dem Nördlinger Ries oder der Eifel. Der Abbau des braun-grünen Gesteins war mühsam und kostspielig – nicht umsonst galt der „Stein der Weisen“ unseren Vorvätern mehr als Gold. Bergleute trieben seit dem frühen 13. Jahrhundert Stollen in die poröse Erdkruste ihrer Heimat und verwandelten bukolische Landschaften in eine schweizerkäseartige Einöde. Und ein weiteres Problem machte den Kumpels schwer zu schaffen: das beim Aufbrechen des Gesteins entweichende, übel riechende Wahrgas – tausende ließen ihr Leben bei einer der gefürchteten Wahrgasexplosionen unter Tage.
Unmenschliche Arbeitsbedingungen in den Gruben, Kinderarbeit und ausbeuterische Knebelverträge der Zechenbarone brachten die Wahrheits-Förderung zusätzlich in Verruf. Die Einführung des Tagebaus Anfang des 19. Jahrhunderts brachte den geknechteten Steigern zwar eine gewisse Erleichterung, aber der so gewonnene „Wahrstein“ war von so minder Qualität, dass die Erschließung neuer Vorkommen von den neugegründeten Wahrheit-Werken mit fieberhafter Eile vorangetrieben wurde.
Hier schlug die Stunde eines jungen Ingenieurs und Erfinders: Alfons Brack erkannte an einem nebligen Novembertag des Jahres 1856 die verheerenden Folgen des Raubbaus an den immer knapper werdenden Wahrheit-Vorkommen. Der in Goslar geborene Sohn eines Fischhändlers und einer Wäscherin hatte sich bereits früh mit unterirdischen Problemen beschäftigt. Seinen Berechnungen zufolge würden die vorhandenen Ressourcen gerade mal für zwei Jahrzehnte reichen, dann wäre Schluss mit lustig. Als Schüler des berühmten Pioniers der Kältetechnik Carl von Linde begann Brack ab 1862 mit ersten Versuchen zur synthetischen Herstellung von Wahrheit. Ein neues Kapitel in der Geschichte der Menschheit wurde aufgeschlagen . . .
Am 12. September 1864 kam es zur Katastrophe in Alfons Bracks Labor. Wegen eines gebrochenen Dichtungszapfens an der von Brack entwickelten Vakuum-Hochdruckpresse traten große Mengen des lebensbedrohlichen Wahrgases aus und verpufften in einer Explosion, die Bracks Laboratorium in Schutt und Asche legte. Alfons Brack verlor bei diesem Unglück seinen rechten Daumen, aber gottlob nicht den Glauben an die Beherrschbarkeit seines Verfahrens. Doch im Verlauf seiner genialischen Forschertätigkeit kam es zu weiteren Unfällen: 1866 und 1868 flogen zwei Fabriken in die Luft – zum Glück befand sich Brack beide Male beim Mittagsschläfchen in seiner außerhalb der Gefahrenzone gelegenen Dienstwohnung. 1870 gelang ihm dann der langersehnte Durchbruch. Mit seiner Brackschen Patent-Wahrheit-Presse bekam er den unerwünschten Gasaustritt endlich in den Griff und schuf ein sicheres Verfahren zur Produktion von synthetischer Wahrheit, das in seinen wesentlichen Grundzügen bis heute Bestand hat. Seit Bracks epochaler Erfindung kann Wahrheit in großen Mengen, kostengünstig und geruchsneutral hergestellt und aufgrund der hervorragenden Haltbarkeit des Produkts beliebig lange gelagert und vielseitig weiterverarbeitet werden. RÜDIGER KIND
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen