: Paranoia ohne Pausen
Morgen lesen in Berlin Smudo von den Fantastischen Vier, der Schauspieler Martin Semmelrogge und der Autor Günter Amendt aus „Fear & Loathing in Las Vegas“
Das waren noch Zeiten. Im Flugzeug durfte man noch mit dem eigenen Jagdmesser seine Grapefruit zerteilen und im Radio dudelte John-Lennon-Agitpop. Das war 1971, eine Zeit, die liberal war, aber deshalb lange noch nicht golden. Der Vietnamkrieg fraß sich endgültig nach Laos und Kambodscha durch und in Amerika regierte Mr. Paranoia persönlich, Richard Nixon, ein Mann, der auch hätte Bürgermeister von Las Vegas werden können, wie der Rolling-Stone-Reporter Hunter S. Thompson in seinem Kultroman „Fear & Loathing in Las Vegas“ vermutet hat.
In diesem Roman suchen ein Reporter und sein Anwalt in der glitzernden Spielerstadt den viel zitierten amerikanischen Traum, der aber unauffindbar bleibt. Parzival im 20. Jahrhundert, wenn man so will. Die beiden Helden ziehen das volle Drogenprogramm durch. In alphabetischer Reihenfolge nehmen sie: Äther, Haschisch, Heroin, Knick- und Riech („Poppers“), Kokain, Lachgas, LSD, MDA, Meskalin, Stechapfel sowie, nicht zu vergessen, Alkohol, gerne mexikanischen oder irischen Ursprungs. Das bedeutet: barbarisch verwüstete Hotelzimmer und permanente Paranoia. Das daneben noch der eigentliche Grund der Reise, ein Reporterjob, versiebt wird, ist fast nebensächlich. Schnurgerade wie ein Highway von Ost nach West zieht sich durch das Buch folgende Frage: Was ist nur aus unseren Idealen geworden?
Nachdem der Roman 1998 von Terry Gilliam mit dem unglaublich reptilienhaften Johnny Depp in der Hauptrolle verfilmt wurde, kommt jetzt das ultimative Hörerlebnis. Vier Stunden auf CD, live auf zwei Stunden eingedampft. Sprecher sind der Dylanologe und Schriftsteller Günter Amendt, der Schauspieler Martin Semmelrogge und Smudo von den Fantastischen Vier. „Eine funkige Idee, das Buch von drei Leuten lesen zu lassen, die in das Klischee von „Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll“ passen“, findet Smudo ganz zu Recht.
So verschieden die drei Persönlichkeiten, so verschieden auch ihre Stimmen. Günter Amendt klingt sonor und onkelig, mehr nach Kaffeewerbung als nach den Exzessen „zweier Drogendilettanten“. Womöglich hält sich der „Sexbuch“-Autor an die Burrough’sche Komik, die sich einstellt, wenn man „Ungeheuerliches mit gleichgültigem Gesicht“ von sich gibt. Mit der Zeit erweist sich das als Stärke. Dem jüngsten Sprecher Smudo fehlt es nämlich dagegen zumindest stimmlich an Tiefe. Smudo selbst sagt „dünne“ dazu.
Nicht wundern dürfte es, dass Martin Semmelrogge am desperatesten rüberkommt – wer ihn nicht nur aus „Das Boot“ kennt, sondern auch in „Bang Boom Bang“ gesehen hat, weiß, warum. Abgefuckt und abgewrackt und in der Aussprache manchmal so verwaschen und porös wie eine stonewashed Jeans hört er sich an. Allein wie er „Äther“ ausspricht, zollt ehrfürchtigen Respekt und gibt eine Ahnung von dem Bumms, den diese Droge erzeugt.
Autor Thompson wird zwar der Beatliteratur zugerechnet, doch anders als die Beatniks der ersten Stunden (die als Tramper illegal mit dem Zug durchs Land fuhren) wird bei Thompsons alter ego Raoul Duke der Luxus groß geschrieben. Weder dürfen die Drogen noch darf die Limousine zur beatitude (Glückseligkeit) fehlen. Auch die Einstellung zur Arbeit scheint sich verändert zu haben. Beim jugendlichen William S. Burroughs kam immer zuerst das Schreiben und dann die Drogen. Hunter S. Thompson hielt es genau anders herum. Im knallbunten Hawaiihemd werden die Drogen weggeputzt wie Popcorn im Kino – das hat ihn berühmter gemacht als seine Bücher. Aber trotzdem herrschte auch bei ihm noch eine bemerkenswerte Klarheit. „Der Dichter wird ein Seher durch ein langes dérangement aller Sinne“, meinte Borroughs und Thompson erfüllte dieses Programm: zum Beispiel in seiner hellsichtigen Beschreibung von Altamont, jenem Woodstockplagiat der Rolling Stones, bei dem die Hells Angels einen Mann aus dem Publikum ermordeten, aber auch in Beobachtungen wie dieser: „Einer der entscheidenden Augenblicke der sechziger Jahre war jener Tag, als die Beatles sich mit dem Maharishi einließen. Es war, als hätte Bob Dylan die Wallfahrt zum Vatikan angetreten.“ Wie konnte Thompson das damals ahnen?
Smudo findet übrigens, dass nichts heute an die von Thompson beschriebene Vergangenheit erinnert. Und tatsächlich sind die Zeiten andere geworden. Smudo, Semmelrogge und Amendt wollen auf ihrer Lesetour mit dem Zug reisen. Ganz ordentlich, mit Ticket und so.
PASCAL CAMES
Morgen, 2. 12., 20 Uhr, im Glashaus der Arena, Eichenstr. 4, Treptow
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen