: „Wir standen nicht vor dem Nichts“
Interview KATHARINA KOUFEN
Herr Tabatabai, muss die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit jetzt Stellen ausschreiben: Afghanistan-Experten dringend gesucht?
Hessameddin Tabatabai: Das ist bereits geschehen. Zumindest im Internet hat die GTZ bekannt gegeben, dass diverse Experten sowohl für Kurz- als auch für Langzeiteinsätze gesucht werden.
Vor dem sowjetischen Einmarsch 1979 war Afghanistan Schwerpunktland deutscher Entwicklungshilfe. Kann die GTZ als Dienstleister für das Entwicklungshilfeministerium daran anknüpfen?
In der Tat war die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan damals sehr präsent. Die Leute erinnern sich auch noch sehr gut daran. Aber die deutsche Entwicklungshilfe hat seitdem keine Projekte mehr in Afghanistan unterstützt.
Also ist es ein Neuanfang?
Es ist ein Neuanfang.
Sie sollten bei ihrem fünftägigen Aufenthalt in Kabul sondieren, welche Art von Hilfe jetzt besonders notwendig ist. Was empfehlen Sie der Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul?
Wir hatten im Kern drei Aufgaben: Zunächst einmal dringend nowendige Maßnahmen der Not- und Flüchtlingshilfe herauszufinden. Gleichzeitig sollten wir überlegen, in welche Richtung die mittel- und langfristige Unterstüzung gehen könnte, sprich: die entwicklungsorientierte Nothilfe für das nächste Jahr und möglicherweise darüber hinaus, aber dann auch die technische Zusammenarbeit nach der Nothilfephase. Drittens mussten wir uns Gedanken machen über die Durchführungsstruktur der Maßnahmen. Wir wissen, dass die technische, soziale, wirtschaftliche Infrastruktur Afghanistans weitestgehend zerstört ist. Insofern muss man realistisch sein und Maßnahmen planen, die man auch tatsächlich umsetzen kann. Wir schlagen Maßnahmen im Bereich Bildung, insbesondere Grundschulbildung, vor. Selbstverständlich Maßnahmen im Bereich der Gesundheit, der Infrastruktur, Landwirtschaft und Ernährung, Wasserversorgung und Frauenförderung.
Erst Nothilfe, dann nachhaltige Entwicklungshilfe – was heißt das konkret beim Gesundheitssystem?
Im Rahmen der Nothilfe geht es darum, die Krankenhäuser zu renovieren. Da fehlt es an Dächern, Fenstern, Türen, da fehlt es auch an medizinischem Gerät. Das Personal muss weitergebildet werden. Damit können wir dann gleichzeitig die Weichen für eine nachhaltige Entwicklung stellen, die eine Beratung zur Formulierung einer nationalen Gesundheitspolitik sein könnte.
Es gibt ja etliche afghanische Ärzte, die damals emigriert sind. Wollen Sie die auffordern mitzuhelfen?
Wir waren überrascht, dass es in Kabul noch afghanische Experten gibt, die jetzt wieder in Erscheinung treten. Die hatten sich in der Talibanzeit zurückgezogen. Insofern sind wir guter Hoffnung, dass es vor Ort Fachkräfte geben wird. Wir wollen aber auch afghanische Fachkräfte im Ausland für Einsätze in Afghanistan gewinnen. Das International Office for Migration führt Listen von afghanischen Spezialistinnen und Spezialisten, die bereit sind, für Kurzzeiteinsätze, aber auch für längere Fristen nach Afghanistan zu reisen. Ich war überrascht zu hören, dass auf dieser Liste sich besonders viele Frauen gemeldet haben.
Haben Sie in Afghanistan auch gezielt mit Frauen gesprochen, hatten Sie die Möglichkeit dazu?
Nein, das ist natürlich weiterhin noch ein ganz großes Problem. Die Ethnologin in unserer Gruppe hat sich hauptsächlich um dieses Thema gekümmert. Sie war allerdings im pakistanischen Peschawar, nicht in Kabul. Wir konnten als Männer und Ausländer keine Gespräche mit Frauen führen.
Wenn man bedenkt, dass 80 Prozent der Frauen Analphabetinnen sind, womöglich auch keinen Zugang zu Rundfunk oder Fernsehen haben – wie erreicht man die?
Da gehört sehr viel Arbeit dazu, sehr viel direktes Gespräch, sehr viel Aufklärung und Überzeugungsarbeit. Ich persönlich bin da nicht so pessimistisch. Diese Arbeit muss auf allen Ebenen geschehen: der politischen, der institutionellen Ebene, aber auch in der konkreten Projektarbeit.
Wer waren Ihre offiziellen Ansprechpartner?
Was die längerfristige Planung angeht, hatten wir das Problem, dass wir dort nicht mit einer regulären Regierung sprechen konnten. Wir haben in Kabul mit der Arbeitsebene der Ministerien gesprochen, aber nicht mit der politischen Entscheidungsebene.
Und das sind noch Taliban?
Uns wurde gesagt, es sind Mitarbeiter des Ministeriums, die auch schon vor den Taliban da waren und die sich jetzt wieder an ihre Schreibtische gesetzt haben. Aber es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass der eine oder andere bis vor kurzem ein Taliban war, der jetzt sozusagen frisch rasiert und ohne Turban hinter dem Schreibtisch Platz genommen hat.
Sie wollen Massnahmen vorschlagen im Bildungsbereich. Wofür plädieren Sie da: Eher für ein privates oder ein staatliches System?
Ich habe kein Rezept parat. Im Endeffekt wollen wir ein Schulsystem, zu dem alle Schichten Zugang haben. Wir werden ein Schulsystem unterstützen, zu dem Mädchen Zugang haben. Man muss vielleicht erst einmal mit Mädchenschulen beginnen, um dann später gemischte Schulen zu haben. Ob es religiöse Schulen geben soll oder nicht, ist eine Frage, die ich gar nicht nur auf Afghanistan beziehen würde. Das ist ein Thema, das auch hier in Deutschland diskutiert wird.
Was meinen die afghanischen NGOs, mit denen Sie vor Ort gesprochen haben, zum Thema Bildungssystem?
Unsere Gespräche gingen eher um die Nothilfe im nächsten Jahr. Der Tenor war: Lasst uns Zeit, das Weitere danach in Ruhe zu diskutieren.
Haben Sie auch das Thema Landwirtschaft angesprochen?
Ja. Wir konnten leider nicht aus Kabul raus, insofern waren wir auf Informationen anderer Organisationen wie des World Food Programs angewiesen. Die verheißen nichts Gutes. Alles deutet darauf hin, dass eine Hungerkatastrophe gigantischen Ausmaßes bevorsteht, wenn nicht rasch Hilfe geleistet wird.
In diesem Zusammenhang haben wir diskutiert, ob wir sehr schnell mit landwirtschaftlichen Produktionsfaktoren helfen können: Saatgut, Düngemittel. Wir können jetzt aber als GTZ nicht das ganze Land retten, das bedarf einer Aktion aller Geber. Wir haben nur bestimmte Standorte ausgesucht, wo wir überhaupt tätig werden könnten.
Was heißt „tätig werden“: Die GTZ möchte mit Projekten beginnen und auch Experten, etwa aus dem Agrarministerium, hinschicken?
Nein, nicht ganz. Wir werden die Bereiche, die ich genannt habe, verknüpfen. Wir wollen nicht an einem Standort nur Bildung machen und am anderen nur Landwirtschaft. Nehmen wir den Fall, Flüchtlinge aus Pakistan wollen zurück in die afghanische Provinz Paktir. Dann wollen wir dort mit den Flüchtlingen arbeiten: Sie erneuern die Infrastruktur, bauen zum Beispiel Wege, hier und da eine Brücke, eine Schule – wir bezahlen sie dafür, entweder mit Geld oder mit Nahrungsmitteln.
Es gibt ein landwirtschaftliches Produkt, bei dem Afghanistan Weltmarktführer ist, und das ist Opium. Aus afghanischer Sicht wäre es doch schlau, weiterhin Opium zu exportieren und von den Devisen im Ausland Nahrungsmittel zu kaufen.
Das ist in der Tat ein Problem. Wie kann man einen afghanischen Bauern davon überzeugen, keinen Mohn anzubauen, sondern vielleicht Gemüse? Da gibt es keine Patentlösung.
Wäre der Opiumanbau ein Ausschlussgrund für deutsche Entwicklungshilfe?
Generell gilt das Stichwort „Konditionierung“. Das heißt, wir helfen nur, wenn etwas ganz Bestimmtes geschieht oder nicht geschieht. Das muss das Entwicklungshilfeministerium entscheiden. Wir müssen hier abwägen: Wenn man sagt, die Hilfe für die Not leidende Bevölkerung erfolgt nur, wenn der Mohnanbau gestoppt wird, dann ist die neue afghanische Regierung vielleicht sogar bereit, darüber zu reden. Aber das braucht Zeit. In dieser Zeit sollte man nicht mit der Hilfe warten.
Wie wollen Sie verhindern, dass Sie mit deutscher Entwicklungshilfe das nächste Gräuelregime in Afghanistan hochpäppeln?
Ich hoffe auf die Weltöffentlichkeit: Jede neue Regierung in Afghanistan muss sich bewusst sein, dass die Scheinwerfer der Welt auf Kabul gerichtet sind.
Die Weltbank setzt beim Wiederaufbau eher auf private als staatliche Träger. Gibt es überhaupt Reste von Unternehmertum in Afghanistan?
Ja, tatsächlich konnten wir in den fünf Tagen in Kabul schon wieder wirtschaftliche Aktivitäten beobachten: Es gibt Märkte, die wieder voll mit Produkten sind, Obst, Gemüse, Fleisch und so weiter. Es gibt wieder Läden, die Kühlschränke verkaufen.
Einige haben sich sofort darauf spezialisiert, Parabolantennen für den Fernsehempfang herzustellen. Die Weltbank hat festgestellt: Was die wirtschaftliche Entwicklung angeht, bräuchte Afghanistan womöglich gar nicht so viel Hilfe. Da sind die Afghanen selbst viel zu sehr Businessmen.
Was hat Sie am meisten erstaunt bei Ihrem Afghanistanbesuch?
Viele haben uns gesagt: Ihr seid zu früh dran, es gibt dort keine Ansprechpartner und es ist zu gefährlich. Kabul war sehr ruhig. Wir wurden überall sehr, sehr herzlich aufgenommen, die Menschen freuten sich geradezu wie kleine Kinder, wenn wir sagten, wir kommen aus Deutschland. Es ist also nicht so, dass wir vor einem großen Nichts standen. Es wäre ein gewaltiger Fehler gewesen, nicht nach Kabul zu reisen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen