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In Kandahar herrscht das Chaos

Plünderungen in der Stadt nach Aufgabe der Taliban. Mullah Omar und die al-Qaida-Kämpfer sind untergetaucht. Bin Laden bleibt weiter unauffindbar

aus Delhi Bernhard Imhasly

„Die Taliban-Herrschaft ist beendet. Von heute an ist sie nicht länger ein Teil Afghanistans“, sagte der künftige Interimschef der Kabuler Regierung, Hamid Karzai, nach der gestrigen Kapitulation der Taliban in ihrer Hochburg Kandahar. Karzai hatte die Übergabe mit Taliban-Führer Mullah Omar ausgehandelt. Doch statt der geordneten Abgabe der Waffen – im Tausch für freien Abzug – an eine aus Stammesführern, Geistlichen und Mudschaheddin gebildete Kommission kam es in der Nacht auf den Freitag zu Schießereien und Plünderungen. Karzai, der sich in Shah Wali Kot nördlich von Kandahar aufhält, verzichtete auf einen Einzug in die Stadt, solange die Ordnung nicht wiederhergestellt sei. An seiner Stelle übernahm gestern abend ein paschtunischer Stammesrat, die so genannte Schura, die Stadt.

Unklar ist der Verbleib von Mullah Omar. Haji Basheer, der Sprecher der provisorischen Kandahar-Schura, erklärte, Mullah Omar sei verschwunden. Auch Karzai meinte, der Schwiegersohn von Ussama Bin Laden sei wahrscheinlich geflohen. Karzai hat inzwischen sein Amnestie-Angebot, das er Omar vor dem Fall Kandahars angeboten hatte, wieder zurückgezogen. Da Omar seine Bedingung – „Abschwören vom Terrorismus“ – nicht erfüllt habe, müsse er nun vor Gericht gestellt werden. Es könnte aber durchaus sein, dass Omars Verschwinden Teil der „innerafghanischen Lösung“ ist, von der Karzai am Donnerstag gesprochen hatte: Omar gibt Kandahar auf, und im Gegenzug lässt man ihn untertauchen. Dies wird zwar die USA verärgern, aber immerhin hatte man damit in der geplagten Stadt ein weiteres Blutbad verhindern können.

In Islamabad erklärte ein Taliban-Vertreter dem Fernsehsender Al-Dschasira, Kandahar habe schließlich vor dem unablässigen Bombenhagel der US-Luftwaffe kapituliert. Er behauptete, dass mindestens 10.000 Menschen in den letzten zwei Monaten, seit Beginn der Bombardierungskampagne, getötet worden seien, die meisten davon Taliban-Kämpfer. Die Luftschläge hätten es, so der Fernsehsender, den Taliban schliesslich nicht mehr erlaubt, die Verteidigungslinien wieder aufzubauen, um sich gegen die angreifenden Paschtunen-Kämpfer zu schützen.

Im pakistanischen Quetta wurde die Vermutung geäußert, dass das Chaos in Kandahar von ausländischen Kämpfern des al-Qaida-Netzwerks und Taliban-Kommandanten genutzt wurde, um sich aus der Stadt abzusetzen. Diese waren nicht Teil einer Amnestie, die Hamid Karzai auf die gewöhnlichen Kämpfer beschränken wollte; sie seien „Kriminelle“, sagte Karzai gestern, und müssten verhaftet werden. Allerdings gibt es Vermutungen, wonach die Führungsriege bereits seit Wochen Kandahar verlassen hat.

Dies und die Tatsache, dass die Suche nach Ussama Bin Laden in der Höhlenfestung von Tora Bora südlich von Dschalalabad ins Leere gelaufen ist, dürften das Fadenkreuz der US-amerikanischen Bomberpiloten auf die Berge nördlich von Kandahar lenken. Die Truppen der Dschalalabad-Schura, die mit massiver US-amerikanischer Feuerunterstützung eine Reihe von möglichen Verstecken von Bin Laden ausgehoben haben, sind offenbar nur auf verlassene Stellungen gestossen. Der lokale Kommandant Hazrat Ali sprach inzwischen von der Möglichkeit, dass Bin Laden und al-Qaida-Kämpfer über die Grenze ins nahe gelegene Pakistan geflüchtet sind. In Quetta beharren afghanische Paschtunen aber darauf, dass sich Bin Laden weiterhin in der Gegend um Kandahar aufhält, das ihm bessere Fluchtwege anbietet als die stärker kontrollierte Grenzregion um Dschalalabad und Peschawar.

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