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Graben auf Papier

Eine Reise durch Archive und Geburts- und Sterberegister: David Fishers Dokumentarfilm „Liebes-Inventur“ im fsk

„Du hast etwas von einem Presslufthammer an dir“, sagt der Journalist Ronel Fisher zu seinem Bruder, dem Filmemacher David Fisher. „Nie hörst du auf zu graben.“ Dabei sei es besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Denn wer könne schon wissen, ob er erträgt, was er zutage fördert?

Ronel und David Fisher führen dieses Gespräch nach dem Tod ihres Vaters. Beim Aufräumen der elterlichen Wohnung stößt David auf das Foto eines Kindes, des erstgeborenen Sohnes Samy, der starb, als er acht Monate alt war. Das war 1952, der Staat Israel war jung, die Eltern eben erst eingewandert, Holocaust-Überlebende beide. Von Samy führt die Spur zu einem Geheimnis: zu einer Zwillingsschwester, die der Mutter unmittelbar nach der Geburt abgenommen worden sein soll. Ob es diese Schwester wirklich gegeben hat, ob sie gestorben ist oder zur Adoption freigegeben wurde, ist ein Rätsel. David Fisher sucht nun nach der verlorenen Schwester und begleitet diese Suche mit der Videokamera: „Liebes-Inventur“ heißt sein Film, eine Reise durch Archive, Geburts- und Sterberegister, durch vergilbtes Papier und Computerdateien.

Vor allem ist es eine Reise, bei der fünf Geschwister – neben David und Ronel noch Estee, die Geschäftsfrau, Gideon, der Anwalt, und Amnon, der Künstler – zueinander finden. Sosehr die Schwester ein Phantom bleibt, so sehr wirkt sie als Katalysator, der die Familie zusammenführt. Zugleich erfüllt sie eine weitere Funktion. Das Trauma ihres Verschwindens ist wie ein Nachhall auf das andere Trauma, die Schoah. Diese Verknüpfung hat sich in den Erinnerungen der Geschwister eingenistet, und sie nimmt auch den Film in Besitz. in der Einstellung zum Beispiel, in der sich Estee an die Geburt ihres ersten Sohnes erinnert, oder wenn Ronel darüber nachdenkt, warum es ihm so schwer fällt, unter Kindern zu sein.

Der Schwere des Sujets entgegnet die Kamera nervöse, energische Bilder. Per Reißschwenk bewegt sie sich von Sprecher zu Sprecher, riskiert Unschärfen oder eigentümliche Kadrierungen. Locker lässt sie nicht: Obwohl die Angestellte eines Krankenhauses das Filmen im Archiv untersagt, zoomt sich die Kamera immer näher an das Schriftstück, das Informationen über die Schwester bereithält. Die Geschwister zwinkern der Kamera zu, weil sie merken, dass heimlich gefilmt wird. Und weil die Krankenhausangestellte dies ahnt, ist sie konsterniert, bleibt aber letztlich hilflos in ihrem Protest: Das Objektiv und seine Gegenstände spielen wie über Bande zusammen. Manchmal hat das etwas von einer Undercover-Reportage, deren Bilder roh bleiben, weil nur heimlich gedreht werden kann. Am Ende bleibt die Schwester verschollen. Alles, was es von ihr gibt, ist ein Eintrag im Krankenhausregister. Mit einem scharfkantigen Gegenstand wurde die erste Beschriftung herausgekratzt und anschließend überschrieben.

Das Familiengeheimnis liegt auf dem Boden eines Palimpsestes, eingeschlossen in einer dünnen Papierschicht, die vom Weitergraben zerstört würde.

CRISTINA NORD

„Liebes-Inventur“, Buch und Regie: David Fisher, Israel 2000, 90 Min., Hebräisch m. dt. UT, im fsk am Oranienplatz, Kreuzberg

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