Frieden ist ein altes Märchen

Die meisten Kaschmiris träumen von der Unabhängigkeit ihres fruchtbaren Hochtals, sind aber den Interessen ihrer mächtigen Nachbarn Pakistan und Indien ausgesetzt

SRINAGAR taz ■ Nur im Winter ist Drass ein sicherer Ort. „Wenn es schneit, fehlt der pakistanischen Aufklärung die Sicht“, sagt Bilal Ahmed und beobachtet die schwarzen Wolken, die sich über der nahen Bergkette gebildet haben. Die Erinnerung an das bisher schwerste Bombardement vor zwei Jahren ist noch frisch. Damals feuerte die pakistanische Armee Dutzende von Granaten auf den direkt an der indisch-pakistanischen Waffenstillstandslinie gelegenen Ort ab. Die gesamte Bevölkerung musste evakuiert werden.

Bis heute gleicht das 100 Kilometer von Kaschmirs Hauptstadt Srinagar entfernte Dorf einer Festung. Mit Sandsäcken bewehrte Militärposten überwachen jede Straßenkreuzung, Kasernen säumen die Zufahrtsstraßen. Endlose Militärkolonnen quälen sich durch die enge Hauptstraße. Auch nach mehr als einem halben Jahrhundert hat der Konflikt zwischen Indien und Pakistan um das kleine Land im westlichen Himalaja nichts an Explosivität verloren.

Im Gegenteil: Seit dem Krieg in Afghanistan hat sich die Situation weiter zugespitzt. Ende Oktober nahm die indische Armee mehrfach pakistanische Stellungen im südlichen Teil der Waffenstillstandslinie unter Granatbeschuss und beendete damit einen zehnmonatigen Frieden.

Seitdem die ersten US-Bomber aus Richtung Hindukusch starteten, fielen im indischen Teil Kaschmirs über 200 Menschen Terrorakten zum Opfer. Agitationen von Al-Qaida-Sprecher Sulaiman Abu Gaith, der die Muslime in Kaschmir in einer Videoansprache am 14. Oktober als „Opfer amerikanischer und jüdischer Aggression“ bezeichnete, fanden in der Himalaja-Region selbst jedoch wenig Resonanz.

„Wir haben unsere eigenen Probleme“, sagt der Schreibwarenhändler Bilal Ahmed und ordnet eine Reihe von Füllfederhaltern, die er im Tresen seines offenen Ladens ausgelegt hat. Auf dem Basar des 800-Seelen-Dörfchens Drass ist kein Antiamerikanismus zu spüren. Zwar verurteilen die meisten der Händler, die Wasserpfeife rauchend in hölzernen Kiosken hocken, den Krieg in Afghanistan, weil eine völlig unschuldige und nach 20 Jahren Krieg verelendete Bevölkerung getroffen werde. Auch brandmarken viele die US-Politik gegenüber den muslimischen Ländern als „unterdrückend“. Aber die Anschläge in den USA am 11. September stoßen auf eine breite Ablehnung.

Anders fällt die Unterscheidung zwischen Terrorist und Freiheitskämpfer indes aus, wenn es um die eigenen Belange geht. So halten viele den blutigen Kampf der kaschmirischen Rebellen für gerechtfertigt.

„Bevor 1989 der Bürgerkrieg begann, wurde der in Artikel 370 der indischen Verfassung festgelegte Sonderstatus Kaschmirs nach und nach ausgehöhlt“, doziert Asgar Ali Karbalai, der einen modernen Schnauzer zum traditionellen Umhang trägt. „Aus dem Kampf um diese Rechte entstand eine Bewegung, die 1989 in den Dschihad mündete.“

Die meisten Kaschmiris träumen von der Unabhängigkeit. Mit Nachdruck wehren sie sich gegen die Behauptung, dass ein freies Kaschmir nicht lange Bestand haben würde, eingekeilt zwischen seinen mächtigen Nachbarn. Vor 1947 sei schließlich auch jeder „satt und glücklich“ gewesen, entgegnen sie. Da Lösungen fehlen, klammern sich viele Kaschmiris an Illusionen: „Wir warten auf ein Wunder“, gibt Bilal Ahmed zu. Der Konflikt sei ein „Spiel der Politik“ – über die Köpfe einer Bevölkerung hinweg, in der bald auch die Ältesten nicht mehr wissen werden, was Frieden bedeutet.

OLIVER SCHULZ