: Wenn die Familien zerbröseln
Die Schulstudie Pisa hat gezeigt: Viele Eltern versagen bei der Erziehung ihrer Kinder. Jetzt wird die Ganztagsschule plötzlich modern. Aber sie allein ist keine Lösung
Tobende Kinder aus einem Kinderheim am Strand von Amrum. Ein typisches Kinderspiel? Einige der kaum Zehnjährigen halten eine Katze fest, andere schlagen auf das Tier ein. Die Erzieher bleiben abseits. Man könne diese Kinder doch nicht mit Mittelschichtnormen über Tierschutz und Mitgefühl konfrontieren, lautet das Argument für ihren extremen, aber in Helferkreisen keineswegs extrem seltenen Bequemlichkeitsliberalismus.
Warum einen Beitrag zur Bildungspolitik mit den Problemen der Heimerziehung einleiten? Weil der angestrebte Umbau des Bildungssystems durch mehr Kinderhorte, außerhäusliche Betreuung und Ganztagsschulen – zu Ende gedacht – die Heimerziehung zum Leitbild erklärt. Dies wirft die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von Erziehung in Institutionen auf.
Das miserable Abschneiden Deutschlands beim weltweit größten Schülertest Pisa scheint verstärkte Erziehungsanstrengungen des Staates zu verlangen: Die Chancen sozial benachteiligter Kinder sind dramatisch schlechter als in den meisten anderen Staaten. In kaum einem Land bestimmt die Herkunft so sehr über den Schulerfolg. Ein Fiasko.
Wer jedoch nur auf mehr Kindergärten, mehr Ganztagsschulen und mehr Förderunterricht setzt, der schreibt die Lebenslüge fortschrittlicher Bildungspolitik fort. Staatliche Interventionen nämlich können die Versäumnisse der Eltern nicht ausgleichen, sondern bestenfalls abfedern. Es gibt familiäre Voraussetzungen, die keine Schule ersetzen kann: Elterliche Liebe als ein unbedingtes Annehmen des anderen, Leitbildorientierung, Wertevermittlung und das Gefühl verlässlichen Geborgenseins.
Eine Grundschulklasse im ländlichen Nordrhein-Westfalen zeigt exemplarisch, dass diese familiären Voraussetzungen zerbröseln: Eine wachsende Minderheit von Kindern tritt quasi „wild“ ins Bildungssystem ein. Da sind im Luxus verwahrloste Mittelschichtkids. Distanzlos und aggressiv, materiell überversorgt, aber emotional im Stich gelassen. Da sind Kinder aus subproletarischen Milieus, deren desolate Familien selbst elementarste Kulturtechniken nicht mehr vermitteln können. Kinder, die andere nur als „Wichser“ anreden, sich nicht konzentrieren können und ständig ihr Frühstück und Arbeitsmaterial vergessen – wenn es ihre Eltern denn schaffen, einen halbwegs regelmäßigen Schulbesuch zu organisieren. Und da sind Migrantenkinder ohne Deutschkenntnisse, deren sozialer Ausschluss oft schon durch die „Integration“ in den Kindergarten beginnt. Sie in gemischtsprachige Gruppen einzubeziehen verbessert ihre Deutschkenntnisse nur, wenn man sie zu Hause beim Deutschlernen unterstützt. Sonst wird schon die Einschulung zum Problem: Doch statt eines gezielten Deutschtrainings malen sie auch im Schulkindergarten nur endlos Mandalas aus. Später gibt es „Förderunterricht“, wo eine überforderte Lehrerin ohne Kenntnis ihrer Muttersprachen den Schülern – Kindern aus Italien, Kurdistan oder Sri Lanka – gegenübersitzt.
Kinder, die übernächtigt und hungrig zur Schule kommen, ständig zappeln oder keine Deutschkenntnisse besitzen, sind in unserem Bildungssystem nicht vorgesehen. Dessen Erziehungsauftrag begrenzt schon die Verfassung: In Abkehr von der NS-Staatserziehung sprach das Grundgesetz den Eltern eine starke Stellung zu. Daher sind jene Lehrer formal im Recht, die sich achselzuckend von den üblichen Pausenhofschlägereien abwenden: Sie sollen Kenntnisse und Fertigkeiten vermitteln. Was Kinder außerhalb des Unterrichts tun, gehört nicht zu ihrem Job. Auch in Ausbildung und beruflichem Werdegang wird Lehrern suggeriert, dass es nicht auf Charisma, Begeisterungsfähigkeit und Engagement ankomme. Gefragt sind Fachwissen, professionelle Distanz und objektive, also unpersönlicher Lehrverfahren, also nüchterne Wissensvermittlung, die auch ein Computer leisten könnte. Und Betreuung ohne Treue (so auch Bernhard Becker, taz vom 17. 12.).
Wo die Familie versagt, stoßen gut gemeinte Bildungsreformen an Grenzen: Wo Kindern jedes Bildungsinteresse fehlt, scheitern auch Gesamtschulen. Projektunterricht oder Gruppenarbeit bringen Teamgeist und Kreativität nicht hervor – sie setzen sie voraus. Ohne ein neues Austarieren zwischen elterlicher Erziehungsverantwortung und staatlichen Bildungsgarantien werden sich die Chancen benachteiligter Kinder und Jugendlicher nicht verbessern.
Was Eltern ihren Kindern schuldig sind, wie viel Aufmerksamkeit und Zuwendung sie ihnen schenken – dies ist nur begrenzt durch Politik zu steuern. Aber es muss versucht werden. Doch Rot-Grün unternimmt alles, um die Erziehung und Betreuung der eigenen Kinder als nachrangiges, beliebig ersetzbares und finanziell törichtes Tun zu ächten. Auch der eifrig geforderte Ausbau von Ganztagsschulen und Betreuungsangeboten orientiert sich bislang nur am Ziel, den Nachwuchs zu „parken“, damit die Erwachsenen besser den Zwängen des flexiblen Kapitalismus nachkommen können. Dann darf man sich aber nicht wundern, wenn immer mehr Eltern glauben, für die Erziehung ihrer Kinder sei vorrangig „Vater Staat“ zuständig.
Verstärkt wird diese Haltung auch durch staatliche Transferleistungen, die das Kinderkriegen, aber nicht das tatsächliche Elternsein fördern. Was spricht dagegen, diese Transfers zu erhöhen und sie gleichzeitig behutsam an tatsächlich erbrachte Erziehungsleistungen zu binden? Es darf beispielsweise nicht länger Privatsache der Eltern sein, wenn sie ihre Kinder wochenlang ohne Begründung vom Unterricht fernhalten. Oder nie zu Gesprächen in der Schule erscheinen. Und was spricht dagegen, bei Migranten das Erziehungsgeld an den Besuch von Sprachkursen zu koppeln? Oder bei sozialhilfeabhängigen Eltern ein Familiengeld mit dem Nachholen eigener Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse zu verbinden?
Doch auch wenn die Eltern nicht zu ersetzen sind: Das Schwinden der sozialisierenden Kraft der Familien macht auch eine Neuorientierung der Bildungsinstitutionen erforderlich. Wo Familien versagen, müssen Kindergärten, Schulen und sonstige Betreuungseinrichtungen – wie die erfolgreichsten Modelle der Heimerziehung – familienähnlich organisiert werden. Sie müssen Geborgenheit vermitteln und die Bindungen zwischen Erziehern und Kindern auf Dauer anlegen. Dies erfordert mehr, besser ausgebildetes und besser bezahltes Personal. Und einen Mentalitätswechsel: Fünfjährige können sich beispielsweise nicht in endlosem „freien Spiel“ aus sich heraus entfalten. Sie brauchen Vorgaben, Anregungen und Wertorientierungen. Doch ihren Wissensdurst etwa durch gezieltes Sprachtraining zu befriedigen oder regelmäßig gute Kinderliteratur vorzulesen ist in der Kindergartenszene verpönt: Man will den Kleinen doch keine – womöglich milieufremden – Vorgaben machen; und als partieller Elternersatz sieht man sich schon gar nicht. Das muss sich ändern. HARRY KUNZ
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen