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Nächtliche Jagdszenen am Eurotunnel

140 Flüchtlinge stürmen die Verbindung zwischen Frankreich und Großbritannien – jedoch vergeblich

PARIS taz ■ Die Kameras waren schon da, als in der Nacht zu Mittwoch die Jagdszenen am Eurotunnel begannen. Sie filmten, wie kurz nach 21 Uhr am ersten Weihnachtsfeiertag knapp über hundert junge Männer die Zäune und Elektrosperren um den Tunneleingang zerschnitten und durch das von grellem Flutlicht erleuchtete, von Wachschützern, von Soldaten und französischen und britischen Polizisten bewachte Gelände zu den Röhren rannten, die nach Großbritannien führen. Erst einige Kilometer weiter im Tunnelinnern schnitt ihnen die Polizei den Weg ab. Eine weitere Gruppe von etwa vierhundert Flüchtlingen, die nach Mitternacht auf den Tunnel zurannte, wurde schon vor der Röhre abgedrängt.

Erst gestern Morgen nahm die Eurotunnelgesellschaft den stundenlang unterbrochenen Bahnverkehr nach Großbritannien wieder auf. Die Polizei meldete einen verletzten Flüchtling sowie 40 Festnahmen. Der Sprecher der Aktiengesellschaft, die seit langem über das „Geschäftshindernis“ klagt, das die Fluchtversuche aus ihrer Sicht darstellen, verlangte laut nach mehr Polizei, nach mehr Militär und neuerlich nach einer Schließung des benachbarten Flüchtlingslagers Sangatte. Es wurde im Jahr 1999 gegründet, um die damals in Parks und auf der Straße campierenden Flüchtlinge, die alle nach Großbritannien wollen, provisorisch zu beherbergen.

Spektakuläre nächtliche Massenfluchten auf dem Gelände des Eurotunnels haben schon früher stattgefunden. Nur war die Zahl der Flüchtlinge geringer. Doch ein Durchgang zu Fuß ist im Eurotunnel nicht möglich. Dafür sorgen Bewegungsmelder, Wärmemessgeräte, Kameras und anderes Gerät.

Die rund dreißigtausend Flüchtlinge, die in den vergangenen Jahren von Nordfrankreich aus auf verbotenen Wegen nach Großbritannien gelangt sind, haben dies anders geschafft. Die jungen Männer wählen vor allem die etwas aussichtsreichere, aber sehr viel gefährlichere Methode, auf LKWs zu springen, die auf fahrenden Zügen geparkt sind, um in den Eurotunnel einzufahren. In den meisten Fällen werden sie schon vor ihrem gefährlichen Sprung von den privaten Wachschützern des französischen Geländes, auf dem die Züge in den Tunnel einfahren, entdeckt und verjagd. Wer es unfallfrei auf einen LKW geschafft hat, riskiert auch noch am britischen Ende die Entdeckung.

Angesichts dieser Gefahren bleibt etwa Familien mit kleinen Kindern oder Alten wenig anderes übrig, als sich auf LKWs zu verstecken, die im benachbarten Hafen Calais auf Fähren fahren, um nach Dover überzusetzen. Da die französischen und britischen Hafenbehörden inzwischen fast systematisch mit CO2-Messstäben arbeiten, die den Atem entdecken, werden die meisten schon vor dem Einschiffen entdeckt.

Alle Flüchtlinge sind auf Schlepper angewiesen. Gegen mehr als fünfhundert US-Dollar pro Versuch versprechen die Schlepper, die wie Geier vor dem Durchgangslager von Sangatte lauern, den Flüchtlingen die Überfahrt auf die Insel. Für jeden weiteren Versuch kassieren sie erneut.DOROTHEA HAHN

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