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Was ist Anstand

Über Neue Mitten, Heinrich Himmler und Alfred Biolek

von CHRISTIAN SCHNEIDER

Was ist Anstand? Angeblich etwas so Selbstverständliches, dass man sich nicht weiter darüber zu verständigen braucht. Man hat ihn oder man hat ihn nicht. Und zu reden ist ohnehin nur mit den einen. Anstand, die „bürgerliche Kardinaltugend“, ist ein seltsam leerer Begriff – und ein noch seltsamerer Kompromiss. Was schon daran kenntlich wird, dass in sich dieser Tugend der Bürger und der Kirchenmann auf kleinstem Raum vereinigen.

Mit dem profanierten Heiligen hat Anstand zu tun; er ist etwas Doppelgesichtiges, das sich der Definition leichtfüßig entzieht, um im Zweifel desto wuchtiger auf diejenigen normativ niederzusausen, die gegen ihn verstoßen. Er gehört zu den sozial unscheinbaren Phänomenen, die erst in der Negation auffällig werden: Anstand wird kenntlich, wenn er verletzt wird.

Dafür weiß man wenigstens genau, wo er sitzt. Im Leib. Aber auch das erfahren wir zumeist aus der – negativen – Perspektive des Verfehlens: „Du hast wohl keinen Anstand im Leib!“ Erstaunlicherweise hat es sich damit auch fast schon, was die substantivischen Erscheinungsformen des Anstands angeht.

Im modernen Leben hat er sich weitgehend aufs Adjektiv verlegt – und führt hier eine durchaus zwielichtige Existenz. Wer einmal anständig einen gehoben hat, stellt ähnlich wie der Teilnehmer einer anständigen Rauferei fest, dass Dinge, die man anständig tut, nicht ohne Folgen bleiben. Die wiederum nicht unbedingt gut sein müssen.

Der aufs Eigenschaftswort herabgesunkene Anstand bezeichnet zumeist keine moralische Leistung, sondern signalisiert die Qualität des Handfesten. Oder besser: die Kompromissbildung zwischen beidem. Der moderne, das heißt der bürgerliche Begriff des Anstands lebt davon, Ungleichnamiges zusammenzubringen – gerade in Deutschland. Seine wichtigste Funktion bestand seit jeher darin, hohe Tugendideale mit dem Bodenständigen zu vermählen, Altes und Neues so miteinander zu kombinieren, dass der Bruch zwischen ihnen unkenntlich wird.

Es ist durchaus folgerichtig, dass das in unseren Breiten gültige Grundbuch des bürgerlichen Anstands einen adligen Verfasser hat. Ein Jahr vor der Französischen Revolution, Ende des 18. Jahrhunderts, formulierte der kavaliersmäßig erzogene Freiherr von Knigge, dem nach des Vaters Tod die Mittel fehlten, ein höfisches Leben zu führen, die Regeln des Anstands aus der Perspektive einer konservativen Revolution: Die Normen und Wertvorstellungen der herrschenden, aber sozial bedrohten Gruppierung sollten aufs Format der nachrückenden, der aufstrebenden Newcomer gebracht werden.

Der ungeheure Erfolg von Knigges Buch beruht darauf, dass in seiner Konzeption des bürgerlichen Anstands ein „neuer Mensch“ entworfen wird, der aber mit der sakrosankten Aura der Traditionalität ausgestattet wird. Knigges Idealgestalt war die zeitgemäße Synthese des tüchtigen vir bonus („der gute Mann“, die Idealfigur des Humanismus) und des eleganten Cortegiano („der Edelmann“) der Renaissance mit den nüchtern-rechenhaften Werten des Kaufmanns und Handwerkers.

Darin kündigte sich nicht weniger als eine „neue Mitte“ der Gesellschaft an. Der anständige Bürger als wahrer Edelmann verkörpert eine neue kulturelle Identität, die den normativen Horizont des Adels überschreitet – auch wenn er bei ihm entscheidende Anleihen macht. Was er, nach Knigge, möglichst unverkrampft tun solle. „Es giebt freilich einen Bocksbeutel, einen Rang und eine Steifigkeit im Umgange, die in vorigen Zeiten in Teutschland herrschend waren; und es ist ein Glück, dass wir anfangen sie abzulegen; aber edler Anstand ist nicht Steifigkeit, – verbindliche Höflichkeit und Aufmerksamkeit nicht Bocksbeutel, – Grazie nicht Zwang – und echtes Talent und wahre Geschicklichkeit nicht Pedanterie.“

Anstand, das ist das Kennzeichen eines neu balancierten Menschen, der die alten bürgerlichen Untugenden der „Blödigkeit und Schüchternheit“ im Umgang mit anderen überwunden hat. Er beweist sich in souveränem Auftreten und kommunikativem Geschick – und ist damit gar nicht so weit entfernt von jenem sensus communis, den der Philosoph Immanuel Kant als „Geschmack“ übersetzte und ihm damit eine gleichermaßen politische wie ästhetische Dimension gab. Der „gemeinschaftliche Sinn“ ist die Urteilskraft, die dem Menschen als Bürger zukommt. Parallel dazu ist Anstand der Gemeinsinn der neuen Klasse, die sich anschickt, die kulturelle Hegemonie zu übernehmen. Er ist das entscheidende Kriterium, wer „dazugehört“ und wer nicht.

Die Zugehörigkeit zu regulieren war freilich schon der wesentliche Sinn der mittelalterlichen Anstandsregeln. Die berühmten, den Benimm regelnden Hof- und Tischzuchten waren Tableaus der sozialen Ausschließung. Der moderne Anstand gewinnt seine Wucht jedoch gerade durch die Verbindung mit dem demokratischen Impuls. Je mehr er sich von einer exklusiven zu einer integrativen Norm entwickelt, desto mehr usurpiert er eine Allgemeingültigkeit, die seine sozialen Wurzeln verbirgt.

Seine normative Kraft beruht darauf, dass er im Modus des Handfesten und Selbstverständlichen das Flair der Tugendlehre abstreift – und doch wie eine unhintergehbare moralische Norm wirkt. Wer von ihm abweicht, verfehlt nicht nur das bürgerliche, sondern letztlich das menschliche Maß. Wer oder was immer „unanständig“ ist, gehört entfernt. Was „der Anstand gebietet“ ist nur zu häufig die veralltäglichte Rede über die Grenzen des Menschlichen. Es gehört zu den Besonderheiten des Anstands, dass er als autoritative, in die Tiefe der Kulturgeschichte reichende Vorschrift angerufen werden kann – und doch seine entscheidende Dimension als Kampfbegriff einer gesellschaftlichen „Erneuerung“ hat.

Niemand hat das radikaler vor Augen geführt als Heinrich Himmler in seiner berühmten Posener Rede vor der Avantgarde seiner neuen Menschen, den Führern der SS: „Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn hundert Leichen beisammenliegen, wenn fünfhundert da liegen oder wenn tausend da liegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“

Der moralische Schrecken, den die Äußerung auslöst, übersieht, dass Himmler formal nicht Unrecht hat. Anstand bedeutet, selbst in Extremsituationen nicht die Fassung zu verlieren. Himmlers Neogermanen halten ihre Gefühle im Zaum und handeln nach festen Grundsätzen. Sie mögen das Mitgefühl, die Humanität, die menschliche Orientierung abgeschafft haben, keineswegs aber den Anstand. Sie beweisen lediglich die Beliebigkeit seiner sozialen Konstruktion und seine Exklusionskraft.

Der Anstand des neuen von den Nazis angestrebten nachbürgerlichen Menschen enthält eine ähnliche Kampfansage ans Bürgertum wie Knigges neuer bürgerlicher Mensch an den Adel. Und dasselbe Geschick, mit dem Rekurs aufs Anständige sich eine scheinbar unhinterfragbare Legitimation zu verschaffen.

Himmlers Männer müssen solange kein schlechtes Gewissen haben, wie sie sich wechselseitig der Anständigkeit versichern können. Und sie könnten sich dabei durchaus auf den Freiherrn berufen. „Von Deinen Grundsätzen gehe nie ab, solange Du sie als richtig anerkennst! Ausnahmen zu machen, das ist sehr gefährlich und führt immer weiter, vom Kleinen zum Großen. Was aber noch heiliger als jene Vorschrift ist – habe immer ein gutes Gewissen!“

Knigges heiligste, im knappen Imperativ stehende Vorschrift zeigt die ganze Ambivalenz des Anstands: Dass er in seinen Fundamenten hohl bleibt, wenn er die feine Linie zwischen der Gruppe, die er organisiert und „den anderen“ durchtrennt. Die Maßstäbe für ein gutes Gewissen setzen einen Begriff des Menschen voraus, der den des Bürgers – oder jeder beliebigen anderen partikularen Gruppe – notwendig übersteigen muss.

Die nachhaltigste Folge des Nationalsozialismus besteht darin, Differenzierungen im Begriff des Menschen etabliert zu haben, die sich vorgeblich mit „Sitte und Anstand“ vertrugen. Wie sehr noch die Bonner Republik unter dieser Erbschaft gelitten hat, wird erst aus der Rückschau vollends deutlich.

Der höchstinstanzlich geforderte „Aufstand der Anständigen“, das Fanal der Berliner Republik, bezeichnet tatsächlich eine Wendemarke der deutschen Politik. Mit der Wiederkehr des Anstands als politischer Kategorie nämlich scheint die Verbürgerlichung jener Generation endgültig abgeschlossen, die für den langen Übergang vom nationalsozialistischen Staat zur souveränen Demokratie steht.

Der neue Anständige verkörpert die programmatische Identität eines Gemeinwesens, das sich nicht nur vom Tausendjährigen Reich (!), sondern auch vom langjährigen Nachkriegsmief der Bonner Wohlanständigkeit absetzen möchte. Die aus Unsicherheit über ihren historischen und moralischen Ort den Kult der „Sekundärtugenden“ zur Blüte trieb. Wie es scheint, sind, so gesehen, auch die Zeiten vorbei, in denen sich – mittlerweile in der Versenkung verschwundene – Hoffnungsträger der Sozialdemokratie über die Kritik profilieren konnten, dass mit ihnen im Zweifel auch ein Konzentrationslager zu führen sei.

Der neue Anstand definiert sich über die exhibitiv und narzisstisch inszenierten Werte des Hinschauens, Gesichtzeigens, Intervenierens. Das richtet sich immer noch auf die – mittlerweile von allen für unmöglich gehaltene – Wiederkehr des Unsäglichen. Aber dass die alte Warnung „Wehret den Anfängen“ mittlerweile im Namen des lange Zeit diskreditierten Anstands geführt werden darf, zeigt eine neue Qualität demokratischer Normalität.

Die nachholende Verbürgerlichung ist von einem letztlich rührend hausbackenen Narzissmus. Der „Cortegiano“ der Berliner Republik ist längst nicht mehr die von Frau von Pappritz entworfene – und ja auch ersehnte – Gestalt des elegant, sondern der von Alfred Biolek betreute Hausmann von Welt. Einer, zu dem es konstitutiv gehört, auch etwas Anständiges auf den Tisch bringen zu können.

Womit denn die ursprüngliche Qualität des bürgerlichen Anstands wieder zu ihrem Recht gefunden hätte: die Moral mit dem Handfesten zusammenzubringen. Und an den positiven leiblichen Aspekt der alten Tischzuchten zu erinnern. Wenn wir darüber nicht vergessen, dass auch der Ausschluss der Missliebigen, den der „Aufstand der Anständigen“ fordert, ein Ausschluss bleibt, könnten wir eigentlich ganz zufrieden sein.

CHRISTIAN SCHNEIDER, 50, Forschungsanalytiker am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main, verfasste mit Cordelia Stillke und Bernd Leineweber das Buch „Trauma und Kritik. Zur Generationengeschichte der Kritischen Theorie“, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2000, 227 Seiten, 24,80 €

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