: „Ein geiles neues Jahr“
In der Silvesternacht drängeln sich die Massen am Brandenburger Tor. Ansonsten bleibt es relativ friedlich: Nur 640 Verletzte landen in Krankenhäusern. Andere prüfen den Geschmack des Euro
von PHILIPP GESSLER
Die Versuchung ist groß: die Lunte des Krachers anzünden und ihn schnell unter eines der Autos werfen – als Strafe für die Dummheit, ausgerechnet zu Silvester kurz nach 24 Uhr Unter den Linden mit der Karre herumfahren zu müssen. Aber hier am Reiterstandbild des „Alten Fritz“ traut sich niemand, die Kracher-Schandtat zu begehen. Vielleicht wäre das ja doch nicht so ganz ungefährlich: wenn ein Kracher das Benzin im Tank entzünden würde. Jetzt möchte man nicht in einem Wagen sitzen. Die Autos schlängeln sich an Batterien von Raketen vorbei. Knallfrösche zerschmettern die Luft. Nie wäre ein Mord leichter.
Aber dazu ist es nicht gekommen, teilt die Polizei mit. Die Silvesternacht verlief friedlich und ohne besondere Vorkommnisse. Immerhin mussten schon kurz nach 1 Uhr nachts 15 Menschen wegen „Schusswaffenbesitzes“ festgenommen werden. Dennoch sind nach Angaben der Polizei die rund 1,2 Millionen Besucher am Brandenburger Tor friedlich und gewaltlos in das neue Jahr gerutscht.
Wer zur „größten Silvesterparty Deutschlands“ will, wird von Ordnern mit dem Spruch „keine Feuerwerkskörper, keine Flaschen“ eingehend gefilzt. Die breitschultrigen Aufpasser leuchten mit großen Taschenlampen in Rucksäcke und Handtaschen. Jahresendzeitliche Pyromanenfreuden privater Natur sind nur auf sieben „Abbrennplätzen“ außerhalb des Pariser Platzes erlaubt. Das Abschießen von Feuerwerkskörpern mit einer Schreckschusswaffe stellt gar eine Straftat dar, warnt die Polizei. Bei der Feuerwehr gehen in dieser Nacht rund 3.000 Notanrufe ein, über 450 Brände sind ausgebrochen. Rund 640 Verletzte müssen in Krankenhäuser gebracht werden, 80 Personen weniger als im Vorjahr. So friedlich ist das hier.
Wie immer, wenn BerlinerInnen sich wie Bolle zu amüsieren vorgeben, riecht es nach Bratwurst, Pilzpfanne und – der Jahreszeit geschuldet – Glühwein. Unter dem Motto „Welcome 2002 – Berlin Open End“ sollen vor dem Brandenburger Tor etwa 2.000 Unterhaltungskünstler für Atmosphäre sorgen. Zu ihnen gehören etwa die Puhdys und Frank Zander. In vier Tanzzelten kann abgehottet werden, vor dem „Adlon“ steht eine 26 Meter lange Bar aus Eis. Hier wird „Schampus“ ausgeschenkt. Die alljährliche Fete am Brandenburger Tor soll dieses Jahr so prollig gewesen sein wie nie zuvor, berichten – zumeist zuverlässige – Quellen. Ein Moderator auf der Bühne wünscht allen „ein geiles neues Jahr“. Ick amüsier mir.
Kurz nach Mitternacht hält Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) auf dem Pariser Platz seine – offiziell – ersten Euronoten in der Hand. Immer wieder wird er mit ihnen fotografiert, daneben macht Bundesbankpräsident Ernst Welteke einen auf locker: „Wir haben hier Liquidität unter der Theke“, sagt er und holt ein Glas Sekt hervor. Dann stößt er mit dem Chef der Dresdner Bank, Bernd Fahrholz, und dem US-Botschafter Daniel Coats an. Der amerikanische Diplomat und mögliche Bauherr am Platz hat für seine 100 Dollar genau 130 Euro und 63 Cents erhalten. Eichel, der 200 Mark gewechselt hat, zeigt sich wenig überwältigt über den historischen Moment, da 303 Millionen Europäer in zwölf Ländern eine neue, gemeinsame Währung erhalten: „Faktisch haben wir die Mark schon seit drei Jahren nicht mehr“, erklärt der Sparminister. Die Deutschen würden die Einheitswährung bald sehr praktisch finden – und „alle werden sich fragen: ‚Wieso haben wir das nicht schon früher gemacht?‘.“ Eine Berlinerin muss kurz hinter Eichel im Pavillon einer Bank ihre Mark in Euro wechseln, findet das neue Geld aber ganz schlimm: „Jetzt ist irgendwie die Nationalität weg“, sagt sie.
In Prenzlauer Berg drängeln sich derweil die ersten Eurofans vor den Automaten einer Sparkassenfiliale. „Sieht aus wie belgisches Geld“, kommentieren zwei Franzosen die frisch ausgespuckten bunten Scheine. Eine Gruppe Berliner Studenten unterzieht derweil das neue Geld dem Praxistest und prüft die Bissfestigkeit eines Fünfzigers.
Abseits des Pariser Platzes ist ansonsten von überschäumender Partystimmung wenig zu spüren. Viele Kneipen in der Auguststraße sind zu. Am prickelndsten ist hier noch die Frage, ob man auf den vereisten Bürgersteigen nicht gleich hinsegeln wird. Am Hackeschen Markt, immerhin, scheint in einer recht schicken Bar was los zu sein – und Eintritt wird auch nicht verlangt. Dafür kostet jedes Getränk 20 Mark, und knackige Kellner servieren mit nacktem Oberkörper. Erst später fällt auf, dass auch eine Kellnerin oben ohne tätig ist – die Federboa um ihren Hals versteckt die Sensation. Aber nicht sie, ein Ober kassiert am Ende ab. Ob er auch in Euro rausgeben dürfe, fragt der Halbnackte höflich. Wer sagt, in Berlin ist Silvester immer gleich?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen