Kalte Hölle Hollywood

Acid für Fortgeschrittene: David Lynchs „Mulholland Drive“ ist ein ornamentaler Reigen über Glanz und Scheitern in L. A., bei dem der Zuschauer den Wirrnissen der Psyche komplett ausgeliefert wird

Bei Lynch legendie Bilder ihren destruktiven Charakter frei

von HARALD FRICKE

Vom Mulholland Drive kommt man zum Sunset Boulevard, Hausnummer 7200, indem man eine Böschung hinabsteigt und am unteren Ende des Hügels rechts einbiegt. Im Dunkel der Nacht ist das Gelände unwegsam, doch zur Not kann man sich an der schön gleichmäßig in Quadraten erleuchteten Silhouette von Los Angeles orientieren. Das gilt auch für die Frau, die erst ein Attentat und dann einen katastrophalen Carcrash durchgemacht hat: Immer dem Licht nach, das hilft aus dem Trauma des eben noch nahen Todes. Mit wackligen Knien stolpert sie den Weg zurück in die Stadt, zurück ins Leben. Kurz darauf sind zwei Detektive am Tatort, schweigen sich an und starren ins Leere. Der Fall wird nie aufgeklärt werden.

Bei David Lynch muss man sich mit solchen Kurzstrecken durch das Bildergestrüpp begnügen. Dass die Koppelung der beiden prominenten Straßen für den Zuschauer ein zufällig aufgeschnappter Anhaltspunkt bleibt, gehört zum Bauprinzip von „Mulholland Drive“, der ursprünglich als Pilotfilm für den Disneysender ABC konzipiert war. Es hätte eine Mysteryserie werden können, ein ornamentaler Reigen über Glanz und Scheitern in L. A.: Frauen verlieben sich ineinander, weil sie fremde Identitäten begehren – „just like in the movies“; ein erfolgreicher Hollywoodregisseur wird von seinem Produzenten verstoßen, bevor die Ratschläge eines Cowboys ihm den Job retten; ein Auftragskiller richtet im Hotelzimmer eines schmierigen Filmagenten versehentlich ein Blutbad an; und marionettenhafte Starlets singen Playback zu kitschigen Sixties-Melodien von Roy Orbison.

Zusammengehalten werden die einzelnen Episoden von abgedimmten Farben und Klängen: Jeder Raum, jedes Interieur ist von einer Patina überzogen, wie man sie von gealterten Ölgemälden kennt; dazu hört man ein synthetisches Grundbrummen auf der Tonspur, das sich der Lynch-Komponist Angelo Badalamenti als steten Abstieg in die Hölle und knarrenden Suspense hat einfallen lassen.

Doch aus der Serie wurde nichts. Zum Glück ist der Produzent Michael Polaire für den französischen Sender Canal+ eingesprungen, um das Projekt wenigstens als Spielfilmfassung zu retten. So konnte Lynch einige Sequenzen nachdrehen, damit in der immer noch 152 Minuten langen Kurzversion die Anschlüsse nicht verloren gehen, die sich im Kontext einer Serie erst mit der Zeit entfalten. Dafür haben nun die nachträglich eingefügten Passagen eine viel weichere Körnung, so dass man ihnen das Flickwerk der Post-Production anmerkt. Außerdem scheinen sich die Gesichtszüge einiger Figuren im Verlauf der Arbeiten seltsam verändert zu haben: Zum Ende hin sitzt die blonde Hauptdarstellerin, die man als herausgeputztes Schauspieltalent Betty kennen gelernt hatte, in einem Diner und sieht aus, als hätte sie eben noch eine bleiche Drogenabhängige in einem britischen Real-Life-Drama gespielt.

Natürlich steckt hinter diesem Kontinuitätsgefälle und dem Mischmasch der Physiognomien auch Absicht. In einer anderen Szene steigt dieselbe Betty aus einem Bett, in dem kurz zuvor noch eine Leiche lag. Dann wieder wackelt die Kamera irre an dunklen Flurwänden entlang, und zwischen zwei Schnitten werden Figuren aus dem Set geschluckt, die nie wieder auftauchen. Dennoch ist man zwischen all der weinkellergereiften Künstlichkeit, die einen bei Lynch schon seit „Blue Velvet“ immer wieder anweht, so sehr in den Bildern gefangen wie die Darsteller auch. Es gibt keinen Schlüssel, der einem den Zugang zum Geschehen öffnet, weder vor noch auf der Leinwand.

Stattdessen nur Mutmaßungen: Vielleicht ist die Frau vom Beginn doch längst tot und der Film ein Jenseits-Trip durch Dantes Inferno; vielleicht ist es auch nur ein Albtraum, den das Kino von sich selbst träumt. Sogar die sporadisch wechselnden Charaktere und die sprunghafte Zeitabfolge würden dann Sinn ergeben. Sie wären nicht einfach Schnitzer im Skript, sondern Zeichen einer tiefen Gleichgültigkeit gegenüber Orten und Figuren. Gott würfelt nicht, er schreibt nur schwer verständliche Drehbücher.

Die Willkür im Umgang mit dem Geschehen ist bei Lynch immer schon Ergebnis von Abstraktion. Das Kino bildet nicht Sichtbares ab, es schafft überhaupt Sichtbarkeit. Aus dieser Überzeugung konstruiert Lynch lauter Settings, in denen die Reaktionen der Protagonisten ungeheuer detailfreudig aufgezeichnet werden – auch wenn der Zuschauer gar nicht andauernd so genau wissen möchte, wie jemand vor Erregung schwitzt oder wie es aussieht, wenn sich die Hände eines Ohnmächtigen verkrampfen. Aber auch für Lynch ist die Nähe zum Körper kein voyeuristisches Vergnügen: Wie die Nadel eines Seismografen markiert jede physische Anspannung den Zustand im Innern jener Welt, die Georg Seeßlen nach ihrem Erforscher „Lynchville“ genannt hat. Noch der kleinste Ausschlag ist dort wichtig, weil er die Deformation des ganzen Systems nach sich ziehen könnte.

Einem solchen System, das aus dem Ruder gelaufen ist, war man bereits in „Twin Peaks“ begegnet. Die deformierte Welt von „Mulholland Drive“ heißt Hollywood. Wie aber lässt sich die Entstellung an einem Ort zeigen, der von sich aus schon permanent Halluzinationen produziert? Tatsächlich hat Lynch diesmal fast alle Logik des Erzählens verworfen. Wo sonst das Phantasma in seinen Filmen als Randspur einigermaßen locker an die Realität gebunden war, wird hier jede noch so abstruse Ahnung umgehend Wirklichkeit. Die beschädigte Psyche lässt viel Platz für Wahnvorstellungen: Miniaturisierte Rentner tanzen in Hamburgerverpackungen, Rollstuhl fahrende Moguln kontrollieren per rotes Telefon die Studios. In einem Restaurant beichtet ein Mann seinem Bekannten verschämt von Albträumen, in denen ein furchtbares Mischwesen vorkommt – prompt schleichen die beiden gemeinsam hinter das Haus, wo das Monster schon auf sie wartet.

Der Frau aus dem Auto (Laura Elena Harring) ergeht es umgekehrt. Nach dem Unfall hat sie das Gedächtnis verloren und kann sich ihre Existenz nur noch von Situation zu Situation erklären. Zugleich ist auch sie damit jeder Veränderung ihrer Umgebung komplett ausgeliefert: Ohne Ich-Instanz regiert der Es-Zustand das Leben. Heimlich findet sie zwar Unterschlupf in einer leer stehenden Wohnung, deren Besitzerin zu Filmaufnahmen ins Ausland gereist ist. Als wenig später jedoch deren Nichte Betty (Naomi Watts) als Nachmieterin im Zimmer steht, gibt sie sich ihr gegenüber als Rita aus – den Namen hat sie gerade im Badezimmer auf einem Poster zum Film „Gilda“ gelesen.

Es gibt keinen Schlüssel, der einem den Zugang zum Geschehen öffnet

Weil Betty Rita mag, hilft sie ihr bei der Suche nach ihrer früheren Identität. Weil Betty erkennt, dass Rita nach dem anfangs gescheiterten Attentat weiter in Gefahr schwebt – immerhin liegt eine halb verweste Frauenleiche in ihrer alten Wohnung –, besorgt sie ihr eine blonde Perücke, die die beiden einander ähnlich macht. Und weil diese Ähnlichkeit Liebe erzeugt, werden Betty und Rita ein Paar, bis zuletzt das nur zufällig von Rita angenommene Filmstar-Image beide Frauen dominiert: Mit Vamp-Eleganz schweben sie Händchen haltend im kleinen Schwarzen durch Szenen und Partys.

Die Turtelei mag dabei zunächst als lesbische Glamoureskapade durchgehen, die man aus alten Roxy-Music-Videos kennt. Sie ist aber ebenso sehr Zeugnis der gegenseitigen Abhängigkeit, nicht bloß in sexueller Hinsicht: „Wir tun so, als wären wir jemand anderes“, sagt Betty und unterwirft sich so dem Spiel der Projektionen, das von Rita bereits Besitz ergriffen hat. Aus dieser Gefangenschaft kommt auch der Starregisseur Kesher (Justin Theroux) nicht mehr heraus, als ihn die Studiobosse zwingen, seinen nächsten Film mit einer Landpomeranze zu besetzen. Als der eloquente Schögeist nicht spurt, wird die Mafia auf ihn gehetzt. Schließlich vertraut sich Kesher in der Bedrängnis einem wortkargen Cowboy an, der ihm für die Zukunft ein sphinxartiges Rätsel mit auf den Weg gibt: „Wenn du dich richtig verhältst, siehst du mich noch einmal; wenn du es falsch machst, siehst du mich noch zweimal.“

Bei so viel unentschlüsselt winkenden Symbolen und Zeichen, die das Leben terrorisieren, wäre „Mulholland Drive“ als Serie das passende Requiem für die Neunzigerjahre geworden. „Langsam gleiten wir an der Oberfläche der Dinge hinab“, wie es bei Bret Easton Ellis in „Glamorama“ heißt. Ganz sicher wäre dabei das Unbehagen sichtbar geworden, von den Erscheinungen einer alles inkorporierenden visual culture umstellt zu sein – gefangen in der Traumfabrik. Es ist ein Unbehagen, das bei Lynch mit einer Wut gepaart ist, aus der heraus er Bilder produziert, die ihren eigenen destruktiven Charakter freilegen. Kein Wunder, dass dem Disneykanal diese Idee nicht gefallen hat.

Womöglich hat Lynch sich in der Not aber auch einen sehr privaten Spaß geleistet. Wenn sein Film vom Scheitern handeln soll, warum nicht gleich selbst mit untergehen? Mag sein, dass er damit die Rolle konsequent ausfüllt, die er für „Mulholland Drive“ dem vom Hollywoodsystem angefressenen Regisseur zugedacht hat. Das ist ihm perfekt gelungen – man sieht, wie der Film sich allmählich in acidsaure Bilder auflöst, und denkt irgendwann: Gut so. Weiter. Mehr. Auf diesem Wege ist Lynch dem Es-Zustand des Kinos ein gutes Stück näher gekommen.

„Mulholland Drive“, Regie: David Lynch. Mit Naomi Watts, Laura Elena Harring, Justin Theroux u. a., USA/F 2001, 152 Min.