: Auch Löwenzahn hat Jahresringe
Nicht nur Bäume, sondern auch Zwergsträucher und Krautpflanzen bilden Jahresringe aus, die eine exakte Altersbestimmung erlauben. In der Schweiz durchgeführte Jahresringanalysen könnten einen wichtigen Beitrag für die Klimaforschung leisten
von URS FITZE
Mitsamt Pfahlwurzel hat Fritz Schweingruber die Alpenaster aus einer Felsnische am Cornergrat in den Schweizer Alpen auf 3.100 Metern Höhe gegraben. Der Dendrochronologe am Eidgenössischen Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos möchte herausfinden, wie alt die Pflanze ist. Dazu schneidet er sie am Wurzelkragen, wo die Wurzel in den Stengel übergeht, entzwei und entnimmt eine Schnittprobe. Unter dem Mikroskop ist sie bei 25facher Vergrößerung kaum vom Schnittbild eines Baumstamms zu unterscheiden. 12 Jahresringe lassen sich abzählen. Solange hat die Alpenaster den widrigen klimatischen Bedingungen weit über der Baumgrenze schon getrotzt.
Seit bald 100 Jahren ist zwar bekannt, dass nicht nur Bäume, sondern auch Zwergsträucher und Krautpflanzen Jahresringe ausbilden. Doch genauer haben es die Dendrochronologen bis vor wenigen Jahren nicht wissen wollen. Sie konzentrierten sich ganz auf die Jahresringanalysen an Bäumen, die nicht nur für die Archäologie, sondern auch zur Rekonstruktion der Klimageschichte wertvolles Datenmaterial liefern.
Erst als sich Pflanzensoziologen für die Altersstruktur und Populationsdynamik von Pflanzengesellschaften interessierten, tat sich die riesige Forschungslücke auf. So unterscheiden die großen Standardwerke über die Flora nur zwischen ein-, zwei- und mehrjährigen Pflanzen. Schweingruber hat in den vergangenen Jahren damit begonnen, verschiedene Arten dendrochronologisch zu analysieren. Die bisherigen Ergebnisse sind erstaunlich: Zwergsträucher wie die rostblättrige Alpenrose können über 100 Jahre alt werden, auch eine Heidelbeere bringt es auf bis zu 50 Jahre.
Krautpflanzen erreichen nicht ganz so hohe Maximalalter. Einen Steinbrech am Julier auf 2.750 Metern Höhe hat Schweingruber mit 19 Jahren datiert, einen Hornklee am Gornergrat auf 3.100 Metern Höhe zählte sieben Jahre. Auch ein Veilchen bringt es auf bis zu 18 Jahre.
531 Arten hat Schweingruber in den Wüsten Nordafrikas, den subtropischen Kanaren, den klimatisch gemäßigten Hügelzonen, den montanen Stufen der Süd- und Nordalpen und den subalpinen Stufen in den Schweizer Alpen untersucht. Dabei zeigte sich, dass Kräuter und Zwergsträucher mit zunehmender Höhenlage ein höheres Lebensalter erreichen. Ein Löwenzahn, der in Zürich drei Jahre alt wird, kann am Gornergrat ohne weiteres 15 Jahre alt werden.
Eine Erklärung für dieses Phänomen steht noch aus. Schweingruber spricht von der inneren Lebensuhr der Pflanzen, die anders geht als jene des Menschen. „Die Biomassenproduktion einer alpinen Pflanze ist über das ganze Lebensalter gesehen dieselbe wie jene einer Pflanze im Flachland. Vielleicht baut ihr genetischer Lebenscode darauf auf“.
Der Bedarf an Grundlagenforschung ist jedenfalls noch riesig.
Während weltweit heute rund 100 Baumarten dendrochronologisch und holzanatomisch gut erforscht sind, zählt alleine Europa rund 5.000 Arten an Krautpflanzen und Zwergsträuchern, von denen meist kaum etwas bekannt ist über ihre Lebensuhr und die Funktionen des Holz- und Rindenkörpers. Schweingruber betont indes dieGemeinsamkeiten mit den Bäumen, die auch dem optische Eindruck der Jahresringe entsprechen. „Auch ein Steinbrech bildet ein Kambium als Wachstumszone aus, und das Stammwachstum entspricht jenem der Bäume“.
Auch methodisch sind noch Fragen offen. So lässt sich nicht bei allen Zwergsträuchern und Krautpflanzen mit Sicherheit sagen, ob sie tatsächlich Jahresringe ausbilden. Nun pflanzt der Ökologe Hansjörg Dietz vom Geobotanischen Institut der ETH im Tessin Sämlinge aus. In ein bis zwei Jahren soll geklärt werden, ob die Ringe, die sie ausbilden, tatsächlich Jahresringe sind.
Schweingruber geht nach dem jetzigen Stand des Wissens davon aus, dass rund 80 Prozent der zweikeimblättrigen Arten in Zentraleuropa Jahresringe ausbilden. Bei Pflanzen in der Sahara oder in den Subtropen kann es sich bei vermeintlichen Jahresringen aber auch um „Regenringe“ handeln. In den trockenen Zonen erfolgt nach jedem Niederschlag ein Wachstumsschub, der während der Trockenzeit wieder gestoppt wird.
Schweingruber ist überzeugt, dass Altersbestimmungen an Kleingehölzen in der vegetationskundliche Forschung künftig eine bedeutende Rolle spielen werden. Die Biologinnen Andrea Münch und Ruth Schwarz haben die Ruderalflächen am Fuß des sich zurückziehenden Morteratschgletschers untersucht. Sie konnten anhand dendrochronologischer Analysen zeigen, dass sich der Pflanzenbewuchs viel rascher einstellt als bislang angenommen. Schon im ersten Jahr nach dem Verschwinden des Eises siedeln sich Pionierpflanzen an, von denen man bislang angenommen hatte, dass sie erst in einer zweiten Phase auftreten.
Dort, wo vor 30 Jahren noch ewiges Eis jedes Leben unterbunden hatte, finden sich heute Pflanzen wie die Reifweide, die exakt dieses Alter erreichen. Der argentinische Agronom Alejandro Casteller konnte nachweisen, dass Heidelbeersträucher und goldene Fingerkräuter, die den Winter unter planierten Skipisten verbringen müssen, ein wesentlich schwächeres Wachstum aufweisen als ihre Artgenossen auf vom Skitourismus unbeeinflussten Flächen. Letztere sind im Alter von zehn Jahren um einiges größer. Dabei spielt es keine Rolle, ob Kunst- oder Naturschnee liegt.
Noch weitgehend ungeklärt ist die Frage, wie Pflanzengesellschaften es fertigbringen, dass sie über Jahrhunderte in gleicher Zusammensetzung überdauern. Auf subalpinen Rasen findet sich ein Konglomerat von Arten mit unterschiedlichster Lebensdauer. Darin wachsen einjährige Augentroste, zweijährige Enziane, 10-jährige Katzenpfötchen und 70-jährige Erikas. Schweingruber vergleicht diese Pflanzengesellschaften mit einer Uhr, die mit schneller und langsamer drehenden Rädchen ihre Funktion erfüllt, dabei aber stets als Gesamtes eine Uhr bleibt. „Dasselbe können sie von einer Pflanzengesellschaft sagen. Sie wird auch in 100 Jahren dieselbe Alterstruktur aufweisen“.
Ob das in Zeiten der Klimaerwärmung, die veränderte Wachstumsbedingungen erwarten lassen, auch im Jahr 2101 noch gelten wird, ist eine Frage, die sich derzeit nicht beantworten lässt. Jahresringanalysen von Krautpflanzen und Zwergsträuchern könnten für die Klimaforschung einen wesentlichen Beitrag leisten – etwa zur Klärung der Frage, ob im hochalpinen Raum die Artgrenzen sich nach oben verschieben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen