: Die Letzten der Letzten?
Die Pisa-Studie offenbarte ein Bildungsdebakel, auch für Berlins chronisch unterfinanzierte Schulen. Die Unternehmensverbände Berlin Brandenburg ärgern sich über den Stillstand in der Bildungspolitik
von TILMAN VON ROHDEN
Der 11. September 2001 hat sich unauslöschlich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Das bloße Datum ruft ein Universum an Emotionen, Reflexionen und Erinnerungen ab. Und der 4. Dezember 2001? Gab es den überhaupt? Und wenn ja, ist er für Deutschland genauso wichtig wie der 11. September?
An jenem fraglichen Tag schlug eine Bombe ein. Kein Flugzeug wie in New York, nur ein Konvolut aus Ergebnissen, Feststellungen und Statistiken über unser und anderer Länder Bildungssysteme. Das unsrige scheint laut dieser Studie namens „Pisa“ völlig auf den Hund gekommen zu sein. Denn den Schülern gebricht es an grundlegenden Fähigkeiten wie Rechnen und Schreiben, so dass sie im internationalen Ranking nur einen der hinteren, der ganz hinteren Plätze finden. Und dass, obwohl wir uns als Wissensgesellschaft verstehen, wo die größte Produktivkraft das Know-how ist. Das macht Sorge.
Auch im Senat für Wirtschaft, denn, so Sprecher Claus Guggenberger, da Berlin keinen anderen Rohstoff als Wissen und Bildung habe, sei man „entsprechend interessiert“. Doch könne die Wirtschaftsverwaltung „keinen Einfluss nehmen“, dies sei der „Job der Bildungspolitiker“.
Doch die scheinen zu schlafen. So muss man wohl die Unternehmensverbände Berlin Brandenburg (UVB) verstehen, wenn sie feststellen, dass die „Probleme im Bildungswesen nicht erst mit der Pisa-Studie bekannt geworden sind“. UVB-Sprecher Theodor Elsholtz gibt sich deshalb gelassen. Fuchsig wird er allerdings, weil die „politische Situation Berlin seit vier bis fünf Monaten lähmt. Dabei gäbe es doch wirklich genug zu besprechen“, klagt er.
Bei Debis am Potsdamer Platz sieht man das ähnlich. Gesellschaftlich bestehe Grund zur Sorge, das Unternehmen schlage jedoch nicht die Hände über dem Kopf zusammen angesichts der Stellenbewerber. Denn Debis suche fast ausschließlich Akademiker, die oft nur deshalb nicht zum Zuge kämen, weil sie meist sehr spezielle Kenntnisse mitbringen müssten. Bei Debis denkt man, dass es so wenige qualitative Probleme mit der Besetzung von Stellenangeboten gäbe, weil der bekannte Name gerade die Besten ihrer Zunft anziehen würde.
Das ist auch nötig, glaubt man Christiane Kühne, leitende Berufsbildnerin bei der Berliner Handwerkskammer. Denn große Unternehmen würden in der Regel höhere Anforderungen stellen. Deutsche Schüler und ihr Potenzial seien grundsätzlich nicht schlechter als in anderen Ländern, insofern könne man den Schülern kaum die Schuld an den im übrigen seit Jahren bekannten Missständen zuschieben. Kühne fordert, einen stärkeren Praxisbezug im Unterricht und „verbesserte Rahmenbedingungen“. Darunter versteht sie etwa Leistungsanreize für Schüler und Lehrer. Besonders Berufschullehrer, die von den Missständen unmittelbar betroffen seien, müssten jetzt Forderungen stellen, so Kühne. „Nicht zuletzt an die Lehrer an den allgemeinbildenden Schulen“, sagt sie.
Auch Hans-Eckard Stute, Leiter des Oberstufenzentrums (OSZ) für Kraftfahrzeugtechnik, würde am liebsten mit dem Finger auf seine Kollegen an den allgemeinbildenden Schulen zeigen. Doch mangelnde Aussichten auf Erfolg lassen ihn einhalten: „Es würde als unkollegial angesehen. Bei uns gilt, bloß nicht in den Ruch kommen, dem anderen ein Auge aushacken zu wollen.“ Befangen seien auch die Berufsverbände, die beide Lehrergruppen gleichermaßen vertreten würden.
Stute setzt nicht auf Verbandsklüngel, sondern auf vermehrte Tests und insbesondere vergleichende Schuluntersuchungen. „Heute wissen Schulen nicht, wo sie leistungsmäßig stehen“, begründet er. Denn der „Output“ sei von Schule zu Schule ziemlich unterschiedlich, bestätige aber insgesamt die Pisa-Studie.
Heute könnten besonders in kaufmännischen und gewerblich-technischen Ausbildungen längst nicht mehr alle Stellen mit Schülern mit mittlerer Reife besetzt werden, weil sie überfordert seien, so Stute. Aus diesem Grund wären diese Ausbildungen fast nur noch Abiturienten vorbehalten.
Während Stute die in der Pisa-Studie festgestellten Missstände damit erklärt, dass in den letzten 30 Jahren „zusehends das gelehrt wurde, was nicht gefragt war“, ist seine Kollegin vom OSZ für Bautechnik vorsichtiger: „Die Ursachen sind ungeklärt“, sagt Heike Pieper. Ein erster Ansatz für einen Neuanfang könne in den Erfahrungen des Auslands liegen. Dort, so Pieper, „spielen Tests, Vereinbarungen und individuelle Verantwortung eine größere Rolle als bei uns“.
Die spezifischen Anforderungen der Wirtschaft mehr oder weniger ungefiltert in die Schulen zu tragen, hält sie für „heikel“, wohl aber wünscht sie eine stärkere Kooperation mit Unternehmen und Branchen. „Doch müssen auf pädagogischer Seite noch viele Berührungsängste überwunden werden“, weiß Pieper.
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