einsatz in manhattan: Ein transatlantischer Exkurs über Exkremente
Wim Delvoys „Cloaca“
1927 konfiszierte der New Yorker Zoll mehrere Skulpturen des rumänischen Bildhauers Constantin Brancusi, darunter seinen berühmten Vogel im Raum, eine abstrakte Bronze: Da die Werke die behördlichen Kriterien für Kunst nicht erfüllten, fielen für sie die gleichen Zollgebühren an wie für gewöhnliche Gegenstände. Nach einem langen Gerichtsverfahren und der daraus resultierenden, zollrechtlichen Anerkennung von abstrakter Kunst als Kunst durften die Brancusis nach über einem Jahr schließlich doch noch ins Land.
1994 nutzte dies dem Young British Artist Damien Hirst nicht viel. Bei seinen in Formaldehyd schwebenden Rinderhälften ging es dem Zoll um die Klärung der Frage, ob es sich bei den Tierkadavern um Nahrung oder Kunst handle. Bis heute dürfen diese und ähnliche Werke nur ins Land einreisen, wenn sich ihr Besitzer schriftlich verpflichtet, sie ausschließlich für Kunstzwecke zu verwenden.
Dass ausgerechnet Wim Delvoys „Cloaca“ diesen Monat ohne Probleme ins Land gelangte, hat den Künstler ebenso gefreut wie überrascht. Seit einer Woche präsentiert das am Broadway gelegene New Museum of Contemporary Art seine riesenhafte, an ein Chemielabor gemahnende Installation aus Kanülen, Digitalanzeigen, Glasbehältnissen und Schläuchen, die nichts anderes will, als die Funktionen des menschlichen Verdauungstrakts in Echtzeit nachzuahmen. „Beim Zoll gab es wohl nur keine Probleme, weil ja erst im Land selbst produziert wird“, sagt Delvoy, 36, und meint damit die Herstellung von Exkrementen. Einmal täglich findet über einen Trichter die Fütterung mit warmen Speisen von den feinsten Küchen aus der Nachbarschaft statt und abends dann vor zahlendem Publikum die Ausscheidung aus einer über grünem Fließband positionierten Metallröhre. „Das Ganze lässt mich über das Essen nachdenken, die Verdauung als Kunstwerk, faszinierend und amüsant“, philosophiert Küchenchef Peter Hoffmann – dessen Restaurant „Savoy“ täglich Nahrung für „Cloaca“ anliefert – über das nur scheinbar junge Bündnis von Kot und Kunst. Denn nicht erst seitdem Piero Manzoni 1961 seine in Dosen bewahrte „Merda d’Artista“ an Sammler zu verticken begann, machte sich der skatologische Hang der Künste bemerkbar.
Schon dem 14. Jahrhundert war das Thema nicht fremd, wie es profane Wandmalereien in Wien belegen, die das Leben des Minnesängers Neidhart von Reuental dokumentieren. In einer Szenenfolge entdeckt der Dichter auf einer Wiese das erste den Frühling ankündigende Veilchen und eilt zu seiner Geliebten, es ihr zu zeigen. Zum leichteren Wiederfinden der Blume hat er seinen Hut über sie gestülpt, den ein schadenfroher Bauer kurz anhebt, um vor der Rückkehr des Poeten seine Notdurft darunter zu verrichten.
Rein vom Sujet ist Wim Delvoys „Cloaca“ also gar nichts Neues. Neu ist nur die Aufmerksamkeit, mit der die Kunsttheorie seine und ähnliche Werke bedenkt. Ein Grabenkrieg zu diesem Thema ist zwischen Kunsthistorikern in Paris und New York entbrannt. Jean Clair, Direktor des Pariser Musée Picasso, sieht die Künste, wie wir sie kennen, durch die allgegenwärtige Kategorie des Ekels pervertiert, der von zeitgenössischen Künstlern im Betrachter bewusst hervorgerufen wird.
Arthur C. Danto, Kunstprofessor an der New Yorker Columbia University, hält dagegen. Zum einen dementiert er die Omnipräsenz des Ekels in der aktuellen Kunstszene, zum anderen stellt er fest, dass jene Künstler, die Clair aburteilt, ihre Werke nicht allein des Ekelns willen schaffen. Ob überhaupt jemand, und wenn, dann wer von beiden Recht hat, ist nur schwerlich zu entscheiden, wenn selbst die Kunst, über die beide schreiben, sich auf altem und neuem Kontinent unterschiedlich präsentiert. Auf Delvoys „Cloaca“-Tour durch Europa wurden die täglich von der Maschine produzierten Exkremente in Einmachgläsern zur Schau gestellt, im New Museum werden sie schamvoll jeden Abend das Museumsklo hinuntergespült. Auch durfte sich in Antwerpen, Wien und Düsseldorf der Duft von „Cloaca“ auf jeweils gleiche bestialische Weise im gesamten Museum verbreiten, im New Museum sucht dies eine Glasglocke zu verhindern.
Die düsteren Obsessionen europäischer Künstler mit Exkrementen und körpereigenen Säften wussten die Kollegen jenseits des Atlantik stets mit der Produktpalette amerikanischer Nahrungsmittel zu erwidern. Hier die Ausscheidungen der Wiener Aktionisten, dort harmlose Performances wie die sich mit Schokoladensirup übergießende Karen Finley. Hier blutsuhlendes Mysterientheater, dort die infantilen Ketchup-Phantasmagorien eines Paul McCarthy. Der postmoderne Theoretiker Frederic Jameson bemerkte in einem anderen Zusammenhang, dass viele der aus Europa entlehnten geisteswissenschaftlichen Diskurse als Import in Amerika oft ihre spezifisch politische Ausrichtung einbüßen. Und im New Museum hat Delvoys Scheiße ihren Geruch verloren.
THOMAS GIRST
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