: Jetzt bin ich wohl eingegangen
Zuerst hat er mich am Schwanz gezogen, dann habe ich ihn runtergeschluckt und seitdem liegt er mir schwer im Magen: Das Tagebuch des Löwen von Kabul, der einen Menschen und, nach Verlust des Augenlichts, auch seinen Blindenhund verspeiste
von ULI HANNEMANN
1. Oktober 1993: Liebes Tagebuch! Heute wurde in der ganzen Stadt wieder pausenlos geschossen. Wie gestern. Und wie vorgestern. Und wie überhaupt seit Jahren schon. Warum, weiß ich nicht.
10. Oktober 1993: Heute kam ein Mensch in meinen Käfig. Er ist immer um mich rumgerannt, während andere ihn draußen angefeuert haben. Dann hat er mich gestreichelt und dabei gelacht. Als nächstes hat er mich am Schwanz gezogen und gelacht. Jetzt habe ich ihm aber eine geschallert und er hat nicht mehr gelacht. Er hat auch nicht mehr gezuckt. Ich habe ihn runtergeschluckt und seitdem liegt er mir schwer im Magen. Übrigens haben die inzwischen schon seit einer Woche nicht mehr rumgeballert: Ob das die Ruhe vor dem Sturm ist?
11. Oktober 1994: Das war tatsächlich die Ruhe vor dem Sturm: Heute kam nämlich ein anderer Mensch zu meinem Käfig und wollte wissen, wo sein Bruder ist. Ich hatte so eine Ahnung, dass er den Schwerverdaulichen von gestern meinte und habe ihn ihm vor die Füße gekotzt. Zur Belohnung hat der Mann mir ein Ei zugeworfen. Ich habe daran geschnuppert und leider zu spät gemerkt, dass das Ei aus Eisen war. Es ist explodiert und hat mein linkes Auge zerstört. Der Mann hat gelacht und gesagt, wie dumm ich bin und dass das eine Handgranate war. Ich wollte ihm eine schallern, aber die Gitterstäbe sind einfach zu dick.
10. Juli 1995: Heute ist nichts passiert.
7. März 1996: Heute ist auch nichts passiert.
22. September 1997: Seit Jahren ist rein gar nichts passiert. Die Verpflegung ist extrem schlecht geworden und ich bekomme seit Monaten nur Bananen. Ich habe versucht, meine Lage mit Humor zu nehmen, und laut gesungen: „He, Mister Taliban – Taliban Banana …“ Die Menschen haben geschrien, dass ich aufhören soll, aber ich habe nicht aufgehört, bis mir einer noch eine Handgranate in die Fresse geschmissen hat. Mein rechtes Auge ist jetzt auch kaputt.
23. September 1997: Zum Glück ist heute nichts passiert.
2. Februar 1998: Nichts passiert.
1. Januar 1999: Habe gut geschlafen – vorige Nacht war Silvester: Neuerdings die einzige Nacht, in der Schießen verboten ist.
20. Juni 2000: Das Futter fällt in der letzten Zeit wieder deutlich üppiger aus. Allerdings auch sehr eintönig: verschleierte Frauen, Regimegegner, verschleierte Frauen, Regimegegner … Würde mein Augenlicht für ein Putenschnitzel geben oder wenigstens eine Banane. Apropos Augenlicht: Ich stoße in meinem Käfig überall an – dummerweise habe ich neulich meinen Blindenhund gefressen.
20. April 2001: Daktaris Geburtstag. Sonst nichts passiert.
10. Dezember 2001: Seit Wochen nächtlicher Fluglärm und Bomenexplosionen: Wir werden befreit! Hoffentlich überleben wenigstens ein paar Leute ihre Befreiung, damit ich mal wieder gefüttert werde. Zur Zeit kümmert sich kein Schwein um mich – ich bin derart ausgehungert, dass mir sogar Regimegegner schmecken würden.
8. Januar 2002: Die Amerikaner sind da! Sie stopfen mich so voll mit Zigaretten und Kaugummis, mit Coca-Cola und Schokolade, bis ich nicht mehr laufen kann: Solche Bauchschmerzen hatte ich zuletzt 1993! Schade – gerade jetzt, wo so viele Journalisten vorbeikommen. Aber die schaff ich beim besten Willen nicht mehr!
22. Januar 2002: Nicht nur die Journalisten sorgen sich rührend um mich, sondern auch die ganz frisch eingetroffenen Schutztruppen. Ich glaube, die sind aus Deutschland. Sie stellen mir jeden Tag ein Fass Bier in den Käfig und lassen mich an Kanistern frischer Zaunstreichfarbe schnüffeln – ich fühle mich leicht und beschwingt wie lange nicht.
25. Januar 2002: Liebes Tagebuch! Du musst von nun an ohne mich weitermachen, denn ich bin heute morgen an Leber- und Nierenversagen eingegangen. Eine ausgezeichnete Entscheidung: Ich streife mit den anderen toten Löwen durch die unendliche Himmelssavanne und sehe wieder wie ein Luchs.
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