paris métro: „Des p’tits trous, des p’tits trous“ – kleine Löcher, kleine Löcher – sang Serge Gainsbourg einst
Das 21. Arrondissement ist das Gedächtnis der Stadt
Kleine Löcher, am Métro-Eingang in das Ticket gestanzt, gibt es schon lange nicht mehr. Die Kontrolleure sind längst durch elektronische Barrieren ersetzt. Man muss sein Billet durch einen Scanner schicken, oder mit Schwung über das Drehkreuz springen, oder sich ganz dicht an den Hintern einer anderen Person schmiegen, um in den Pariser Untergrund zu kommen. Dort hat sich ebenfalls alles verändert. Sogar die FahrerInnen sind eine aussterbende Spezies geworden. Die vor drei Jahren eröffnete Linie 14, die die große Bibliothek im Osten der Stadt mit der Madeleine im Westen verbindet, kommt ohne aus. Sie ist vollautomatisch.
Trotzdem fallen den Parisern zur Métro vor allem alte Geschichten ein. Und alte Lieder. Wie jenes Chanson, in dem Serge Gainsbourg den Kontrolleur von der Mairie des Lilas besang. „Des p’tits trous, des p’tits trous“ – kleine Löcher, kleine Löcher – ganz schnell und abgehackt vorgetragen. Alles, was seit dem 19. Juli 1900 geschah, als in Paris die 1ère Ligne von Maillot nach Vincennes eröffnete, hat Spuren hinterlassen. Meist bleibende. 1914, als der große Krieg begann, verschwanden die Worte „Berlin“ und „Allemagne“ von der Métro-Karte. Bis heute sind die Stationen nach der belgischen Stadt „Liège“ (Lüttich) und nach dem ermordeten Sozialisten „Jean Jaurès“ benannt. Eine blutige Entscheidungsschlacht des folgenden Krieges findet sich ein paar Stationen weiter wieder. „Stalingrad“, andernorts längst von neuen Machthabern ausradiert, überlebt in der Pariser Métro die weltpolitischen Windungen.
Mit Geschichte und Geschichten ist die Métro gespickt. Sie reichen von durchzitterten Bombennächten und konspirativen Treffen der Résistance bis zu Razzien gegen algerische Unabhängigkeitskämpfer. Die Métro ist das Gedächtnis der Stadt.
Die Métro ist zugleich ihr 21. Arrondissement. Ein Bezirk, in dem sich im Gegensatz zu den oberirdischen 20, wo die kleinen und die großen Leute fein säuberlich nach Ost und West getrennt sind, alle mischen. Die Métro, das sind 1,2 Milliarden Menschen im Jahr, die im Rhythmus von „Métro-Boulot-Dodo“ – Métro-Job-Schlafen – vereint sind. Die Métro, das ist ein eigenes Biotop, mit Grillen, die zirpen, wenn gerade keine Bahn vorbeirauscht, und Bakterien, die es nirgends sonst in so hoher Konzentration gibt. Die Métro, das ist ein Konzertsaal auf Rädern, in dem Tangos, Polkas und Rocksongs ein der Musik ausgeliefertes Publikum beschallen.
Und Paris buddelt weiter in seinem schon vielfach durchlöcherten kalkhaltigen Untergrund. Neue und die Modernisierungen alter Strecken stehen auf dem Programm. Andere Bauten – wie Zugänge für Rollstühle und Kinderwagen, für die die Métro bislang unzugänglich ist – wären dringend nötig. Aber die neue Stadtverwaltung hat eigene Pläne. Statt im Untergrund, wo seit 101 Jahren alles fließt, will sie ihre Duftnoten an der Oberfläche setzen, im Stau der Avenuen und Boulevards. Nach Provinzstädten wie Grenoble, Nantes und Straßburg will sie auch Paris eine Straßenbahn verschaffen. „tramways“ gelten gerade als „modern“.
DOROTHEA HAHN
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