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Wo man Visionen leben kann

Im bundesweit einzigartigen Ökodorf Sieben Linden in der Altmark leben die ersten 50 Bewohner. Sie schaffen sich hier auf naturverträgliche Weise ihren Broterwerb. Jetzt entsteht das erste Strohballenwohnhaus. „Es gibt noch nichts Vergleichbares“

Hans-Henning Müller hatte es geschafft. Er studierte Architektur, machte Karriere, lebte in China und den USA. Seine Wohnung in Frankfurt besaß Deckenstuck und zwei Bäder. Doch plötzlich brach er alle Zelte ab – um ein Zelt in der Altmark aufzuschlagen. Heute ist es schon ein Wohnwagen, den winters ein Kanonenofen beheizt. Doch der 58-Jährige strahlt. „Ich brauche keine Uhr mehr, keine Taschenlampe, keinen Schlüssel“, lacht er und streicht sich durch das graue Haar. Er steht in einem kleinen Amphitheater, das er selbst entworfen und mit Erdaushub, recycelten Betonelementen und Waldholz gebaut hat. Auch der Teich daneben ist sein Kind.

Nein, Aussteiger sei er nicht, meint Müller, eher Visionär. Es sei eine neue Herausforderung gewesen, als er sich entschied, mit ein paar Dutzend Gleichgesinnten ein Ökodorf zu bauen. Er ist praktisch der Architekt des Unterfangens, das bereits bundesweit aufhorchen lässt. Denn seit 1998 richten sich in Sieben Linden, unweit von Salzwedel in Sachsen-Anhalt, 40 Neusiedler und einige Knirpse häuslich ein. Die eine Hälfte lebt noch in Wohnwagen, die andere schon in den ersten Ökohäusern. Die älteste Bewohnerin ist 74.

Im November 2000 zog auch Eva Stützel mit Tochter Anna (4) in eines der neuen Niedrigenergiehäuser. Acht Jahre des Wartens, Hoffens und Bangens zahlten sich endlich aus. Schon 1993 gehörte die 37-jährige Psychologin aus Saarbrücken zu dem Häuflein Ökooptimisten aus ganz Deutschland, die auf einem heute noch als Domizil für Seminare genutzten Hof im Altmarkdorf Groß Chüden eine Siedlungsgenossenschaft Ökodorf gründeten. Vier Jahre später erwarben sie die 22 Hektar Land, um ihren Traum auszuleben. Der politische Wind stand gerade günstig. „Es wäre leicht gewesen, uns unsere Pläne zu zerschlagen“, räumt sie ein. Doch damals regierte in Sachsen-Anhalt mit Rot-Grün auch nötiges Wohlwollen, um dem beschwerlichen Vorhaben nicht noch administrativ Steine in den Weg zu legen.

„Zunächst schufen wir Wege, Energiestränge, eine Pflanzenkläranlage und den Teich“, erinnert sich Eva Stützel, die das Dorfprojekt heute managt. Erstes festes Gebäude wurde die alte Hofstelle, die zum Niedrigenergiehaus ausgebaut wurde. Heute dient es als Regionalzentrum, im Obergeschoss entstand ein Gästehaus für Neugierige und Sympathisanten, die es reichlich nach Sieben Linden zieht. Das Geld für die Arbeiten steuerten die Ökofreaks selbst bei: Wer im Dorf leben will, muss sich mit 10.250 Euro in die Genossenschaft einkaufen.

Das Spektrum der Bewohner ist breit. Es reicht vom Veganer, der selbst Netzstrom und Traktorkraft ablehnt, bis zu Ökopragmatikern, denen sich die Saarländerin zurechnet: „Wir haben zwar Komposttoiletten und Naturbaustoffe, halten aber auch noch Tiefkühltruhe oder Zentralheizung für opportun, Letztere freilich nur aus Holzfeuerung.“ Deshalb untergliedere sich das Dorf auch in „Nachbarschaften“, in denen sich jeweils Leute mit ähnlichen Lebensansätzen zusammenfanden. Diese „Einheit in der Vielfalt“ werde bewusst gepflegt und schlage sich letztlich produktiv nieder, selbst wenn Spannungen nicht immer ausblieben, versichert sie.

Einvernehmen bestehe aber darüber, dass sie keine reine Wohnsiedlung sein wollen, erzählt Didi Müller. Er verdient seinen Unterhalt als Aktionskünstler und hat in einem Seitentrakt ein kleines Atelier eingerichtet. Ein Schmuckdesigner und eine Töpferei sind seine Nachbarn. „Wer in Sieben Linden lebt, erarbeitet sich hier auch auf ökologisch verträgliche Weise seine Existenz“, so Didi. Die meisten, die im Dorf einziehen, fügt Eva Stützel hinzu, kämen denn auch schon mit einer Existenzgründeridee. Diese gerade bei ihnen zu erproben, hält sie für sehr günstig: „Die anderen Bewohner sind gleich erste Kunden, die vielen Gäste, die uns besuchen, bringen weiteren Umsatz. Und unser einfacher, naturnaher Lebensstil zwingt nicht, auf Anhieb viel verdienen zu müssen.“

Die Kinder des Dorfs sollen in einem Waldkindergarten betreut werden – der Genehmigungsantrag ist gestellt. Pädagoge Ralf Feisel will mit den Knirpsen täglich von acht bis zwölf in den Wald ziehen, bei Regen, Sonne oder Schnee. Frühstück gibt es in einem kleinen Bauwagen. Die Älteren besuchen die Freie Schule Altmark in Depekolk.

Vor allem mit Handwerkern ist das Dorf nicht schlecht gesegnet. Die Palette reicht vom Tischler bis zum Pizzabäcker. Andere geben Ökoliteratur heraus, veranstalten Naturschutzseminare oder bestreiten das breite Kulturmanagement im Amphitheater. Und Bedarf an neuen Siedlern bestehe noch, versichert Vorstand Eva. „Da wir uns künftig stärker selbst versorgen wollen, brauchen wir unter anderem Leute, die Früchte und Lebensmittel verarbeiten können, die wir selbst erzeugen“, sagt sie.

In einem hinteren Teil des Dorfes lebt die Nachbarschaft „Club 99“. Das sind die Fundis in Sieben Linden, für die selbst das ökologischste Standardwohnhaus noch zu viel zu viel Umweltbelastung produziert. Nur von Hand, mit Beilen und Sägen, errichten sie derzeit das erste in Deutschland zugelassene Strohballenwohnhaus. Im Frühjahr soll es fertig werden. „Kein leichtes Unterfangen, denn es gibt noch nichts Vergleichbares, wo wir hätten abgucken können“, erzählt Martin Stengel, ein Energietechnikingenieur vom Bodensee. „Wir verwenden nur Naturmaterialien, wie Rundhölzer, Holznägel, Stroh und Lehm, oder wiederverwertete Baustoffe, etwa Dachziegel“, so der 35-Jährige. Für schwere Arbeiten benutzen sie Pferde, die nach Feierabend auch mal den Kremserwagen ziehen. Rund 180 Quadratmeter Wohnfläche soll das ultimative Ökohaus dereinst bieten und gerade mal gut 20.000 Euro Materialkosten verursachen. Die Romantik gebe es kostenlos dazu. HARALD LACHMANN

www.siebenlinden.de

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