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montagsmaler Genesen ist schwer, wenn das linke Auge wegrutschtScheidengesichter und Penisgesichter

Am Wochenende ist natürlich eine Menge passiert, aber halt nicht bei mir. Obwohl, es gab so einen typischen hysterischen Männerstreit kurz vor dem Wochenende. Erst war der andere hysterisch und ich cool, dann wurde ich hysterisch und er cool, und im Augenblick weiß niemand, wie es weitergehen soll. Naja.

Aber sonst ist nicht viel passiert. Konnte auch nicht ausgehen, weil ich abends zu Hause bleiben und mich schonen muss. Vor kurzem lag ich nämlich noch im Krankenhaus. Was haben die Leute früher während des Genesens gemacht, abends, wenn das Kerzenlicht zum Lesen nicht reichte oder sie gar nicht lesen konnten oder ihre zwei Bücher schon durchhatten?

Früher muss Genesen endloses An-die-Decke-Starren gewesen sein. Heute ist es endloses Auf-den-Bildschirm-Starren. In Orson Wells’ „Citizen Kane“ sagen sie in der deutschen Synchronisation die ganze Zeit „Good bye“, „How do you do“ und „Alright“ anstatt „Auf Wiedersehen“, „Guten Tag“ und „Okay“.

Da man sich weder die ganze Zeit mit so etwas beschäftigen noch an die Decke starren kann, probierte ich es am Samstagabend doch mit dem Weggehen. Kit holte mich ab, und wir gingen zu Gabi. Doch bevor der Abend richtig beginnen konnte, wies mich Gabi darauf hin, dass mir mein linkes Auge wegrutsche. Vor Anstrengung, nahm sie an. Ich spürte nichts, ich konnte mir auch nicht vorstellen, wie das von außen aussieht, wenn einem das Auge wegrutscht. Ich wollte es aber auch nicht sehen und ging vor Schreck sofort wieder nach Hause.

Kit war so nett, mich zu begleiten. An der Eberswalder Straße stand der junge Mann, der mit seinem immer gleichen Singsang nach etwas Kleingeld und den alten Fahrscheinen fragt und allen ein schönes Wochenende wünscht. Es war sehr kalt, und ich hatte nur einen Euro und dreizehn Cent an Kleingeld, mein linkes Auge rutschte angeblich weg, und ich fand, ich konnte ihm keine dreizehn Cent geben. Dreizehn Cent wirken so asozial, und ein Euro war mir zu viel.

Jedenfalls sagte Kit, sie wisse gar nicht mehr, wie sie solche Leute nennen solle. „Obdachlos sieht er nicht aus, das Wort Bettler gibt’s praktisch nicht mehr, würde auch gar nicht passen, weil der Mann viel eher einen Job macht, und das um die Uhrzeit und bei der Kälte und offenbar ohne jeden Groll, wenn einer nichts gibt. Der Mann ist ein Profi.“

Sie hat Recht, und wenn ich vorher so gedacht hätte, hätte ich ihm den Euro gegeben. Und ich bin froh, dass ich ihm nicht die dreizehn Cent gegeben habe. Er hätte sicher gelacht.

Kit ist eine alte Freundin, ich kenne sie schon seit Jahren, aber sie gibt mir immer von neuem Rätsel auf. Als wir in der U-Bahn sitzen, sagt sie ganz unvermittelt:

„Menschen mit viereckigen Köpfen sind meistens glückliche Menschen und meistens Männer. Sie sind etwas naiv und in sich ruhend. Ihr Lachen ist wie sie selbst, ganz offen, plain laughter. Sie sind gute Freunde und haben ein klares Wesen. Sie tragen alle den gleichen Haarschnitt – die Haare sind kurz und fettig – und haben ölige große Stirnen mit kleinen Pickeln drauf und tendieren ein wenig zu Scheidengesichtern.“

„Zu was?“

„Naja, es gibt Scheidengesichter und Penisgesichter.“ Sie spricht wie in Trance.

„Und woran erkennst du so ein Scheidengesicht?“

„Ich schäme mich, wenn ich hineinschaue. Es ist so, dass diese Gesichter irgendetwas nach außen tragen, was man eigentlich nach innen tragen sollte. Sie haben einfach ihr Geschlecht im Gesicht. Oder irgendwas, was einen sofort an ein Geschlecht denken lässt.“

Das nächste Mal mehr von Kit.

TOBIAS HÜLSWITT

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