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Der Weg zum Selbst

Ostasiatische Kampfkünste erfreuen sich anhaltender Beliebtheit. Was sie von westlichen Sportarten unterscheidet, ist die Verbindung mit einer Lebensphilosophie  ■ Von Gernot Knödler

Eine der beeindruckendsten Geschichten über die fernöstlichen Kampfkünste ist zugleich eine der irreführendsten. Eugen Herrigel, ein deutscher Philosophieprofessor, der in den 20er Jahren in Japan die Kunst des Bogenschießens erlernte, bat seinen Meister Kenzo Awa um eine Demonstration. Man löschte das Licht bis auf das winzige Fünkchen einer Moskitokerze vor der Scheibe. Der Meister gab zwei Schüsse ab: Der erste traf mitten ins Schwarze. Der zweite spaltete den Schaft des ersten Pfeils.

Der Witz an der Geschichte liegt darin, dass es dem Meister nicht um den Erfolg der Demonstration gehen durfte. Der unwahrscheinliche Treffer war nur möglich, weil der Meister absichtslos das Ritual des Spannens und Schießens vollführte. Hochkonzentriert und selbstvergessen traf er die Scheibe, ohne äußerlich gezielt zu haben.

„Die Spinne tanzt ihr Netz, ohne zu wissen, dass es Fliegen gibt, die sich darin fangen“, sagt der Meis-ter. „Die Fliege verfängt sich im Netz, ohne zu wissen, was ihr bevorsteht.“ Weil sich der Meister vollkommen einfügt in die Ordnung des Kosmos, kann er die Scheibe gar nicht verfehlen.

Was sich anhört wie Esoterik, bildet den Kern des budo, des „Weges der Kampfkünste“. Die Kampfkünste dienen als Methode, das Wesen des eigenen Geistes zu verstehen – ein religiöses Ziel.

Auf dem Weg in den Westen haben die Budo-Sportarten viel von dieser spirituellen Dimension verloren. Andererseits könnten selbst westliche Sportarten als Vehikel auf dem Weg dienen. Denn auch der Boxer, der Fechter oder der Fußballspieler trainiert so lange, bis er unbewusst reagiert. Kein Boxer hat Zeit zu überlegen, wo er den Haken ansetzen soll. Er erspäht eine Lücke und nutzt sie sofort.

Um dem Gegner keine Chance zur Abwehr zu geben, ist es dabei wichtig, dass er den Schlag ansatzlos, ohne vorheriges Zucken, ausführt. Es gehe darum, unvermittelt zu reagieren, „aus innerer Ruhe“ heraus, sagt Peter Lembke, 3. Dan (Meistergrad) im Okinawa-Stil des Goju-Ryu-Karate. Geistige Konzentration, wie sie in der Meditation des Zen-Buddhismus trainiert wird, ist dafür besonders förderlich, weshalb es eine enge Verbindung vieler Kampfkünste zum Zen (chinesisch: Chan) gibt.

In der Kunst des Bogenschießens (Kyudo) zeigt sich dieser leere, konzentrierte Geist beim Lösen des Schusses. Um Treffer zu ermöglichen, muss die zum Zerreißen gespannte Sehne ohne den leisesten Ruck aus den Fingern des Schützen gleiten. Dessen Hand, sagt der Meister, müsse sich öffnen, „wie die Schale einer reifen Frucht“. Auf dem Weg dorthin schließt der Schüler Bekanntschaft mit seiner Angst, seiner Ungeduld und anderen Untiefen seiner Seele. Meistern kann er die Kunst nur, wenn er sich selbst aufgibt.

Beim Kampf kommt ein seelisches Ringen der Kontrahenten hinzu. „Kämpfen ist eine Sache, die sich zu 90 Prozent auf der psychischen Ebene entscheidet“, sagt Karate-Trainer Lembke. Berühmt sind die Kämpfe reifer Schwert-Meis-ter, die sich minutenlang gegenüberstanden und schließlich ohne einen Streich auseinandergingen. „Hätte sich einer der beiden bewegt, hätte auch sein Bewusstsein sich bewegt und er eine Lücke gezeigt“, kommentierte der 1982 verstorbene Zen-Meister Taisen Deshimaru den Kampf.

Doch eine geistige Auseinandersetzung findet auch auf einer weniger hohen Stufe statt. Jeder, der einmal Wettkampfsport betrieben hat, weiß, wie sehr das Gefühl, der Überlegene zu sein, beflügelt, wie die Angst vorm Gegner die eigenen Fähigkeiten schwächt und wie Matches „im Kopf“ kippen können. Durch Konzentration auf die nötigen Bewegungen und Reaktionen verschwindet das Bewusstsein vom kämpfenden Ich und damit Angst und Unsicherheit.

Bei den meisten Sportschulen tritt der spirituelle Hintergrund hinter solchen konventionellen Phänomenen zurück. Emanuel Bettencourt, Kung Fu-Lehrer mit dem 4. Dan, findet es zum Beispiel „faszinierend, zu welchen Fähigkeiten man in der Lage ist, wenn man solche Sportarten ausübt“. Das bedeutet für ihn, den Körper bis an seine Grenze zu trainieren und dann mit dem Geist darüber hinauszugehen.

Wie für Bettencourt gehören für den Taekwon Do-Trainer Oktay Cakir (6. Dan) Disziplin und Selbstbeherrschung zum wesentlichen Hintergrund der fernöstlichen Kampfsportarten. Kraftausdrücke sind in Oktays Schule tabu. Die Schüler lernen den Lehrer, ihre Gegner und sich selbst zu achten. Viele Eltern verfolgten mit großen Augen das Training und fragten: „Können Sie zu uns nach Hause kommen?“, erzählt Bettencourt.

Der Gipfel der Kampfkunst schließlich ist es, den echten Kampf zu vermeiden. Viele Kinder kommen zu Bettencourt, weil sie oft angerempelt werden oder sich rächen wollen. „Wenn man ihnen beibringt, dass es darum nicht geht, fängt es an Spaß zu machen“, sagt der vielfache Titelgewinner. Dabei ist die weiche Art des Siegens, durch Ausnutzung der Kraft des Gegners Bestandteil vieler Kampfkünste, etwa des Aikido oder des Judo. „Wenn ich nachgebe, kann kein Mensch stärker sein als ich“, sagt der Ving Chun Kung Fu-Trainer Akin Özden schelmisch.

Das Museum für Völkerkunde, Rothenbaumchaussee, präsentiert an fünf Sonntagen im April und Juni ostasiatische Kampfkünste. Der geistige Hintergrund wird dabei ebenso thematisiert wie die Techniken, die mit einfachen Übungen ausprobiert werden können. Fon 01805/ 30 88 88, www.voelkerkundemuseum.com

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