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Sünden der Wahrnehmung

Filigrane Erschütterungen and the city: Ulrich Peltzer erzählt elegant-melancholisch von einer Identitätssuche in New York. Der 11. September kommt dem Erzähler in die Quere – „Bryant Park“

Das Nachdenken über Wirklichkeit hat ihr selbstbewusstes Behaupten ersetzt

von HANS-PETER KUNISCH

Bernhard Lacan ist ein cooler Kerl. Er muss sein Geld zählen, denn er weiß nicht mehr, wie viel er gestern getrunken hat. Vermutlich hat er mit Renate geknutscht, aber auch das ahnt er nur. Und jetzt klingelt auch noch Valeska, seine Exfrau, der er 1.340 Mark Alimente schuldet. Bernhard Lacan ist Journalist in Berlin, hat einen Hang zum städtischen Untergrund und ist der Held von Ulrich Peltzers erstem Roman „Die Sünden der Faulheit“.

Der Name Lacan ist natürlich ein gebildeter Scherz, aber ansonsten hat sein Träger eine griffige Existenz. Die „Sünden“ lesen sich wie eine Reaktion auf das anhaltende Gejammer, die von Weicheiern geschriebene deutsche Gegenwartsliteratur habe zu wenig mit der Realität zu tun, lasse sich nicht auf diese ein. Ganz abgesehen davon, dass der Berliner Untergrund nicht jedermanns Realität ist, bleibt festzustellen, dass die „Sünden“ 1985 erschienen sind, dem Gejammer vorne weg, und Peltzer seit einigen Jahren schon wieder ganz anders schreibt.

So in „Alle oder keiner“, dem Roman von 1999, aber auch in „Bryant Park“, der Erzählung, die jetzt im Zürcher Amman-Verlag erschienen ist. Entgegen der generellen Entwicklung der Literatur, die, durch Kritik und Wahrnehmungschwierigkeiten der Leser mürbe gemacht, sich zu einfacheren Strukturen bequemte, scheint sich Peltzer eine komplexere Schreibweise aufzudrängen: Die Konturen seiner Figuren werden weicher, das Nachdenken über Wirklichkeit und Identität hat ihr selbstbewusstes Behaupten ersetzt.

Seine Diplomarbeit in Psychologie schrieb der 1956 geborene Krefelder 1982 über „Die Formierung der bürgerlichen Identität“. Erst 1999 zog er in „Alle oder keiner“ literarisch nach und befasste sich mit der Vergreisung der Post-68er, die irgendwann einmal für die „offene Psychiatrie“ waren und jetzt in seltsamem Zielbewusstsein nur noch fachinterne Ordnungen und Karrieren anstreben. Noch weit unsicherer als diese harten Typen ist der Hauptheld und Ich-Erzähler „u.“ in „Bryant Park“, dem zu allem Unglück auch noch der 11. September des Jahres 2001 geschieht.

„Tattooed City“, ein Gedicht des amerikanischen Serben Charles Simic, ist das Motto des Buchs, und es deutet die schon vergessen geglaubte „Identitätsproblematik“ an. Es sei, sagt das Ich darin, nur eine „Krakelei auf einer Lagerhauswand“ oder einer U-Bahnstation. Und tatsächlich ist die Haupt- und Erzählerfigur von „Bryant Park“ ein Mann in einer sanften Krise. Er ist nicht nur nach New York gekommen, weil er sich in Sarah verliebt hat. Er scheint in der Public Library in Chroniken des 19. Jahrhunderts über ausgewanderte Ahnen zu forschen, und zu dieser Kramerei passt, dass ihm immer wieder Gedanken an den eigenen Vater (der gestorben ist, den er beerbt hat) in die Quere kommen. Er schaut den Vater auf Fotos an, aber etwas Deutliches fällt ihm nicht ein.

Der Vater scheint keineswegs gut, aber auch kein Tyrann gewesen zu sein. Man hat zusammen im Fernsehen Fassbinders „Faustrecht der Freiheit“ gesehen, und da hat er doch schon beinahe Verständnis für Schwule geäußert. Der Sohn hat an seinem Krankenhausbett gesessen usw.

Und nicht nur das Thema Vater- und Identitätssuche in der Fremde weist darauf hin, dass sich Peltzers Schreiben in Richtung Siebziger und ihre Aufarbeitung bewegt. Das diffuse Ich hat beinahe ausschließlich leise, eindringliche Gedanken. Lacans Kraftmeierei, aber auch der Berlin-Stadtstreicher Stefan Martinez aus Peltzers zweitem, nach seinem Helden benannten Roman scheinen viele Meilen weit weg. „In New York, sinnierend“, wäre eine passende Bildunterschrift, eine gleichschwebende Aufmerksamkeit für Details durchzieht das Buch. Große Leidenschaften bleiben „Moby Dick“ vorbehalten, dessen Verfilmung der Ich-Erzähler an diesem Nachmittag im Bryant Park sieht.

Peltzers trendferne Entwicklung vom zupackenden hin zum elegant-melancholisches Schreiben ist interessant. Doch wer die über ihre Väter und die Wirklichkeit grübelnden Söhne der Siebziger noch nicht vergessen hat, dürfte das eine oder andere nervtötende Wiederholungserlebnis haben. Auch die kaum weniger unscharfe Drogenstory zwischen dem Hermannplatz in Berlin-Neukölln und Neapel, die einen eigenen Erzählstrang bildet, der den anderen unterbricht, befreit nicht aus dieser selbstreflexiven Schlaufe.

Die genaue Wahrnehmung der Orte, vor allem in Neapel und New York überzeugt hingegen. Da passt es gut, dass dem Ich-Erzähler an Wirklichkeit auch noch der 11. September in die Quere gekommen ist. War anfangs des Buchs in der 36. Straße ein Gerüst zusammengebrochen, geschieht das jetzt mit den Stützen der westlichen Welt. Alptraum und Glück eines Autors: Das fragile Erzählen wird von der Terrorattacke bedroht.

Der Ich-Erzähler, der sich erst jetzt mit seinem Kürzel „u.“ präsentiert und schon lange wieder in Berlin ist, holt den kleinen Fernseher aus der Abstellkammer, glotzt wie wir alle, kann’s zuerst nicht glauben, ist erschüttert und versucht dann hektisch, seine Bekannten in New York zu erreichen. Es ist ihnen nichts passiert.

Peltzer reagiert auf der Ebene der Erzählung direkt, bricht diese ab, und das hätte auch das Ende sein und den Einbruch der Wirklichkeit in die Literatur dokumentieren, die Erschütterung des Schriftstellers inszenieren dürfen. Doch: Was möglicherweise Kitsch geworden wäre oder, wenn Peltzer die Erschütterung mit Understatement darzustellen versucht hätte, gut, das wollte er offenbar nicht.

Er riskiert etwas ganz anderes. Er nimmt den Gang seiner rückblickenden Erzählungen aus New York, Berlin und Neapel nach einigen Seiten einfach wieder auf und führt sie ruhig bis zu ihrem angekündigten Ende. Selbstbewusst möchte er damit die Macht der Literatur demonstrieren, die, ganz im Gegensatz zum Journalismus, warten kann, bis ein Ereignis „erzählreif“ wird. Das gehöre, schreibt der Ich-Erzähler, „in ein anderes Buch“.

Das klingt theoretisch gut. Nur ist es praktisch so, dass die gewundene „Entschuldigung“, nicht beim Attentat zu bleiben, auf Dauer nicht überzeugt, weil das, was die Erzählung hergibt, sei es die Drogen- oder die Selbstfindungsgeschichte, jetzt nur noch künstlicher wirkt. Der Nachmittag eines Schriftstellers eben. Diese letzten Seiten haben gegen das Interesse am 11. September und an der Reaktion darauf keine Chance. Was das anhaltende Vergnügen am filigranen Schreiben Peltzers, seiner sehr sensiblen Wahrnehmung nicht stört.

Ulrich Peltzer: „Bryant Park“. Amman Verlag, Zürich 2002.158 Seiten, 19,90 €

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