: Eine Frau von Stand
von JAN FEDDERSEN
In der Redaktion der Zeit wird gerne eine Geschichte aus den Achtzigerjahren kolportiert. Damals hatte das liberale Wochenblatt eine Hand voll junger Redakteure engagiert, die, von der kulturellen Prägung her, ihre Wurzeln in der Alternativbewegung hatten. Was sie sagten und schrieben, mochte am Hamburger Speersort, dem Sitz der Zeitung, diskutabel gewesen sein – ihr Outfit aber häufig nicht. Und die Geschichte geht so: Ein junger Kollege aus dem Dossier-Ressort stand am Fahrstuhl und band sich seine Schuhe zu. Hinter ihm kam eine ältere Frau zu stehen, betrachtete den Vorgang und sagte schließlich in einem eher distanzierten, aber bestimmten Ton: „Ist es denn nötig, eine amerikanische Hose zu tragen.“
Das Objekt ihrer Rüge waren Jeans von der Stange, Hosen also, die es in ihrem Hause in den Fünfziger- und Sechzigerjahren allerhöchstens beim Personal in der Verwaltung gegeben hätte – und auch da nur nach Feierabend. Und nun fand man diese Laxheit schon in der Redaktion. Andere Jahre, andere Moden: Marion Gräfin Dönhoff konnte und wollte schon damals nicht begreifen, dass die Zeit über ihre Zeit allmählich hinwegzuwehen drohte. Und diese Allerweltshose war ihr der Beweis: So etwas Gewöhnliches trägt man nicht.
Dabei hatte die Herausgeberin des Wochenblatts ihre Kritik ganz und gar nicht als anmaßend empfunden: Sie war es freilich gewohnt, die Defintionsmacht dessen, was welchem Stand geziemt und was deshalb schicklich ist, stets in der Hand zu behalten. Und eben dieser Zug hat ihr Respekt verschafft: Dass da eine sich noch traut, die Tugenden der Sittlichkeit, des Anstands und des Standesbewusstseins einzufordern.
Marion Gräfin Dönhoff hat nie ein anderes als eben ein bestimmendes Leben kennen lernen müssen. Geboren als Spross eines alten preußischen Adelsgeschlechts, verliebt in die Idee eines starken, toleranten Staates, die die Klassenunterschiede als gegeben hinnimmt und nicht darauf drängt, sie zu tilgen, lebte die Dönhoff das pflichtbewusste, harte und strenge Leben einer „Geborenen“. Das Lernziel: mit geradem Rücken durchs Leben gehen. Dass das Gutsleben ohne Personal nicht zu bewältigen ist, war nie fraglich – aber dass die Knechte und Mägde freundlich zu behandeln seien, war ebensowenig die Frage.
Der Widerstand gegen die Nazis verstand sich für eine wie sie von selbst. 1933 wechselte die Studentin Dönhoff in die Schweiz, nach Basel, wo sie mit einer Arbeit über Gutshäuser promoviert wurde. Das antinazistische Credo speiste sich freilich nicht allein aus der Kritik an der völkischen Besoffenheit der Deutschen, sondern am plebejischen Gestus des Gros der NSDAP-Kader: Mit Personal konnten die Dönhoffs umgehen, mit dem Pöbel mochten sie sich nicht abgeben. Insofern hat in ihrer politischen Wertschätzung Georg Elser, der badische Handwerker, der am 8. November 1939 Hitler im Münchner Hofbräuhaus mit einer Bombe in die Luft gehen lassen wollte, nie die gleiche Rolle gespielt wie die Männer des 20. Juli.
Diese „Kreisauer“ waren Dönhoffs Freunde, sie waren Mitglieder der alten deutschen Eliten, die durch die Nationalsozialisten ein Stück weit um die besten Ränge im Staat gebracht worden waren: Für die Gräfin war das auch ein Verlust ihrer wichtigsten Freunde – und am Ende auch einer von Heimat. Denn sie musste wie die meisten Deutschen, die östlich der Oder lebten, vor den sowjetischen Truppen fliehen. Die Dönhoff schaffte dies – anders als die Menschen, von denen Günter Grass in seinem „Gustloff“-Roman berichtet, nicht im Treck vor der Deichsel, sondern auf dem Pferd, ihrem Fuchs „Alarich“ – beschwerliche sieben Wochen dauerte die Flucht.
In Hamburg begann die zweite Karriere der Dönhoff. 1946 trat sie in die Redaktion der Zeit – und bestimmte fortan das publizistische Geschehen der jungen Bundesrepublik mit. Sie war die wichtigste Stimme im Sinne der von Willy Brandt initiierten Ostpolitik, weil sie selbst aus Ostpreußen stammte und deshalb über die entsprechende street credibility unter den Vertriebenen verfügte. Als Kanzler Brandt allerdings 1970 zur Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrag reiste, sagte Gräfin Dönhoff zwei Tage vor Reiseantritt ab: Sie unterstütze das Anliegen sehr, könne aber kein Glas darauf erheben, was der Vertrag vernünftigerweise vorsehe – die Verzichtserklärung auf die alten deutschen Ostgebiete.
Im Grunde waren damals die besten Zeiten der Gräfin, immerhin schon fast sechzig Jahre alt, schon vorbei. Achtundsechzig mag als Chiffre für den schleichenden Bedeutungsverlust dieses Journalismus stehen: Die Zeit als Institution von Regierungs- und Politikberatung begann etwas aus der Mode zu kommen. Die Vorstellung, dass in einem Meer von Medien, gischtend und aufgewühlt, ein solides Schiff klaren Kurs auf die Vernunft am Horizont weist, leuchtete nicht mehr automatisch ein: Die Zeit, die faktisch nach dem Kommunikationsmodus von Kamingesprächen auf dem Gutshof funktionierte, wo gutgewillte Menschen trieb- und bewegungsarm sich das Beste für das Land ausdenken, diese Zeit musste sich modernisieren – und wurde deshalb mehr und mehr verwechselbar.
Die Gräfin sah diese Entwicklung nicht mit Wohlgefallen. Unterhaltung als solche war ihr suspekt, ein Begriff wie „Spaßgesellschaft“ galt ihr als Drohung und die Lage stets als bedenklich. Ihre wichtigste publizistische Initiative war zuletzt Ende der Neunzigerjahre ein Buch mit dem Titel „Zivilisiert den Kapitalismus“ – das keineswegs eine geplante Nähe zum beginnenden Antiglobalisierungsdiskurs aufwies, aber eben doch spüren ließ, dass auch den konservativ-liberalen Alteliten der Bundesrepublik mulmig wurde, wenn sie an die Ökonomie der konsequenten Freizügigkeit dachte.
Gräfin Dönhoff – die, heißt es im Zeit-Verlag unverblümt, für mehr als ein Drittel aller Abonnements steht – verwandte sich im Übrigen stetig für Menschenrechtsfragen; auf ausführlichen Afrikareisen konnte sie studieren, wohin moderne Despotien führen, wenn sich der Westen nicht um deren Kritik und zugleich Bekämpfung kümmert. Der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika war ihr dabei ein besonderes Anliegen – und die Freundschaft mit Nelson Mandela ein Grund von persönlicher Zufriedenheit.
Folgende Geschichte wird man über sie auch immer wieder gerne erzählen. Die Gräfin war es ja nie gewohnt, an Supermarktkassen, an Flughafencountern oder in Restaurants auf den Oberkellner zu warten. Eine ihrer Herkunft nahm die Welt nicht als tendenziell nervtötend: Sie kannte sie nur als Netz, das ihrem Leben dienstbar ist. 1998 allerdings, schon nicht mehr ganz fahrtüchtig, hatte sie es eilig, zum Hamburger Flughafen zu kommen. Leider war sie etwas spät und rammte kurz hinter ihrem Haus ein anderes Auto. Statt wie jeder andere Bürger an der Unfallstelle auf die Polizei zu warten, fuhr sie weiter, denn der Flieger war nur eine Liniemaschine, die nach Fahrplan flog. Das anschließende Strafverfahren soll sie mit einer Mischung aus Erstaunen, Irritation und Empörung genommen haben: Wie kann man einer wie ihr mit Lappalien (Blech!) kommen. Schließlich wartete die politische Welt auf sie – was zählt da ein kleiner Versicherungsschaden!
Bis zum Schluss also – eine Preußin, die, höher zu Ross als andere, stets hofft, dass ihr Pferd auch immer genug zu essen und trinken bekommt. Die Redaktion der Zeit teilte gestern mit, Marion Gräfin Dönhoff sei am Montag im Kreis ihrer Familie auf Schloss Crottorf im Alter von 92 Jahren gestorben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen