: Die Bestien von Potsdam
In der Hauptstadt des Landes Brandenburg wurde ein Politikberatungszentrum zum Wieder-Wölfisch-Werden eröffnet: das „Institut für Sicherheits- und Militärpolitik“. Denn das Wolf-Sein ist wieder schwer im Kommen, und die Ostkolonisation auch
von HELMUT HÖGE
Als Hans-Magnus Enzensberger 1957 die Wölfe lyrisch gegen die Lämmer verteidigte, wollte er damit über das „schwarze Schaf“ Heinrich Böll hinausgehen – um die sich alles gefallen lassenden „weißen Schafe“ zu demoralisieren. Inzwischen hat sich die Situation aber wieder verschärft: Keiner will mehr ein weißes oder gar schwarzes Schaf sein. „Stell dir vor“, erzählt zum Beispiel die BWL-Studentin Janna, „in einem Managerkurs sagte der Dozent neulich: ‚Wenn man anderen beruflich was Gutes tut, tut man sich selber nichts Gutes.’ Und das haben alle um mich herum eifrig in ihre Hefte geschrieben“ …
Mit seinem großen Nachkriegsroman „Wolf unter Wölfen“ (1937) wollte Hans Fallada vor solchen Wandlungen bereits warnen: „Es ist ein Buch von sündigen, sinnlichen, schwachen, irrenden, haltlosen Menschen … in einer zerfallenden, irren, kranken Zeit … in der jeder für sich allein und gegen alle kämpft.“
In der damaligen „Inflationszeit“ bildeten sich zudem aus den zurückgekehrten Fronttruppen gerade die ersten rechten „Wehrwolf“-Organisationen und „Wolfskommandos“ – gegen die kommunistisch verhetzten Arbeiter, Juden, Polen und Bolschewisten. In dem 1923 beginnenden Roman geht es um drei Offiziere: Der eine wirtschaftet sein Pachtgut bei Frankfurt an der Oder in die Pleite und wird verrückt, der andere zieht sich deprimiert in ein Sanatorium zurück, und nur der Dritte – ein Glücksspieler – rettet sich: in ein Hochschulstudium, allerdings zunächst auf Kosten seiner Freundin.
1965 verfilmte das DDR-Fernsehen „Wolf unter Wölfen“ – mit dem späteren „Polizeiruf“-Oberleutnant Jürgen Frohriep in der Hauptrolle. Und jüngst hat der westdeutsche „Naturbuch-Verlag“ (sic) den Titel „Wolf unter Wölfen“ noch einmal aufgelegt: Der Autor heißt aber nun nicht mehr Hans Fallada, sondern dem Zuge der Zeit entsprechend Werner Freund – ein ehemaliger Nahkampfausbilder der Bundeswehr, der als „Oberwolf“ im süddeutschen Merzig mit 24 wilden Wölfen zusammenlebt: „Es war Liebe auf den ersten Blick.“ Als experimenteller „Verhaltensforscher“ behauptet er jetzt sogar: „Wir sind auch Rudeltiere, nur eben entartete, überzüchtete Supermarktraubtiere.“
Aber das ist noch nicht alles: auch die „Werwölfe“ unseligen Andenkens sind wieder da – ebenfalls unter dem Titel „Wolf unter Wölfen“ berichtete erstens ein Bernd Frenz – authentisch für die „Grufti-Scene“ – im Internet über sie, und zweitens ein Eberhard Müller. Während die eine Geschichte übel ausgeht – auf dem Friedhof, hat die zweite jedoch ein neuchristliches Happyend: der „Computergrufti“ Flopsi hat im Jugendclub Raubkopien von Spielen geklaut und schämt sich deswegen so, dass er wieder „auf den (richtigen) Weg vom Wolf zum Lamm“ gerät. Eine ähnliche Dumpf-Parabel beschreibt Karlheinz Langguth in seinem „Poem Ich, der Wolf“, das zwar den „Wölfen und Wölfinnen“ gewidmet ist, aber „viel lieber bin ich Lamm unter Lämmern“. Das ist nun aus Hans Falladas „Wolf unter Wölfen“ seit der belämmerten Wiedervereinigung geworden.
Auch die andere berühmte DDR-Verfilmung – von Frank Beyer, mit Armin Mueller-Stahl in der Hauptrolle – wird wohl diesem Megatrend zur Verwurstung nicht entkommen: Bruno Apitz’ KZ-Roman „Nackt unter Wölfen“ (1958). Es geht darin um den jüdisch-polnischen Jungen Stefan, den Häftlinge des KZ Buchenwald vor der SS verbergen konnten. Das Buch, das millionenfach aufgelegt und in 25 Sprachen übersetzt wurde, hat ebenfalls ein Happyend: „Das Gute siegt darin am Ende über das Böse!“ 1964 wurde sogar das leibhaftige „Buchenwald-Kind“ gefunden: Es hieß Stefan Jerzy Zweig und studierte in Frankreich. Die DDR spendierte ihm sogleich eine Ausbildung an der Film- und Fernsehakademie Babelsberg. Seine wahre KZ-Geschichte, erzählt von seinem Vater, erschien 1987 im westdeutschen Dipa-Verlag. In der Berliner Zeitung fügte kürzlich der Historiker Volker Müller dem Apitz-Roman „Nackt unter Wölfen“ noch einen Nachtrag hinzu: den Kommunisten in Buchenwald gelang es zwar, Stefan im letzten Moment aus der „Todestransportliste“ zu streichen, dafür wurde jedoch „der Sinto-Junge Willy Blum ins Gas“ geschickt.
Die Verfilmung von „Nackt unter Wölfen“ – 1963 – wird übrigens laufend in irgendwelchen Fernsehsendern wieder ausgestrahlt. Ähnliches gilt auch für „Wolf unter Wölfen“. Neuerdings gibt es noch einen weiteren Wolfs-Film – aus Frankreich: „Pakt der Wölfe“. Ein Mix aus Action, Sex, Mystik, edle wilde Wölfe, geldgeile Huren und Ökologie. Dem taz-Rezensenten Detlef Kuhlbrodt gefiel der Film trotzdem: Er sei „pynchonesk“ und „beruhe auf einer wahren Begebenheit – aus dem 18.Jahrhundert“. Die Realgeschichte hat mit dem Film jedoch wenig gemein – obwohl es hier wie dort um die „Bestie von Gévaudan“ geht: ein Riesenwolf, der am 1. Juli 1764 ein 14-jähriges Mädchen zerfleischte, im Monat darauf ein weiteres Mädchen, dann zwei kleine Jungs sowie eine 36-jährige Frau. Ende September werden zwei weitere Mädchen und ein Junge von dem riesigen „Untier“ getötet. Unter dem Kommando des Hilfsstabsarztes Duhamel quartieren sich am 1. Februar 1765 3.000 Dragoner in den betroffenen Chevennen-Dörfern ein. Sie verwüsten die Flure und verprassen die Vorräte der Bauern, können jedoch nur „ein paar gewöhnliche Grauwölfe zur Strecke bringen“, wie der Historiker Robert Delort schreibt. Duhamel lässt schließlich seine Soldaten in Frauenkleidern antreten, um die Bestie, die anscheinend eine Schwäche für Mädchen hat, anzulocken. Diese verlässt sich jedoch lieber auf ihren Geruchssinn statt auf den Augenschein! Die Soldaten rücken ab. Es kommen die Louvetiers, die offiziellen Wolfsjäger. Wieder werden Dutzende von gewöhnlichen Wölfen erlegt, bloß das Untier nicht. Ludwig XV. schickt daraufhin Beauterne los – seinen Jagdverweser und Büchsenträger, mitsamt Gehilfen und riesigen kampferprobten Hunden aus den Abruzzen. Diese beißen alles tot, was ihnen vors Maul kommt. Schließlich auch einen großen Wolf, der offiziell zum Untier erklärt wird. Beauterne bekommt die Prämie – 10.000 Pfund – und rückt ab. Aber schon nach wenigen Tage erreichen neue Schreckensmeldungen die Hauptstadt. Diesmal übernimmt der Marquis d’Apcher das Kommando: Am 19. Juni 1767 erlegen seine Jäger mit kirchlich gesegneten Kugeln einen zweiten riesigen Wolf. „Diesmal war wirklich Schluss“, schreibt Delort. Auf der einen Seite wurden in weniger als drei Jahren 101 Menschen getötet und auf der anderen Seite 200 Wölfe. Darüber hinaus war diese Jagd auf die Bestie von Gévaudan „der Wendepunkt zwischen zwei Epochen in der Geschichte des Wolfs und des Menschen, … die mit der definitiven Niederlage des Wolfs endete“.
Dass das finale Duell gerade dort stattfand, hat zwei Gründe: Zum einen wurde im Gévaudan nach dem Aufstand der dortigen Protestanten das Waffenverbot für die Bevölkerung besonders strikt gehandhabt, und zum anderen hatte man hier die gemeinwirtschaftlichen Strukturen aufgelöst, unter anderem auch die großen Herden, die von erwachsenen Hirten mit scharfen Hunden bewacht wurden. Stattdessen wanderten nun Kleinstherden unter der Obhut von unerfahrenen Kindern umher – in einer bergigen, zudem wenig besiedelten Gegend, die dem Wolf gute Chancen für Angriffe und Flucht bot. Sein wirkliches Ende kam jedoch erst mit dem Zusammenbruch des Ancien Régimes: „Die Französische Revolution gibt den Bauern Waffen, und diese dürfen sie auch anwenden.“ 1795 erhöht der Nationalkonvent zudem die Wolfs-Prämien. Erst ab 1940 vermehren sich in Frankreich wieder die Wölfe. Das Lied „Les loups sont entrés dans Paris“ kommt auf: „Die Wölfe sind in Paris“ – aber damit sind nun die Deutschen gemeint. Im Vergleich zu ihnen ist die Bestie von Gévaudan ein Lämmchen. Aus den französischen Wilderern werden jedoch bald Partisanen: der Maquis. Zusammen mit den Amerikanern gelingt es diesem schließlich, Paris wieder zu befreien. Mit von der Partie ist der republikanisch gesinnte Wolfsjäger Ernest Hemingway, der anschließend sogar eigenhändig die Umgebung der Buchhandlung „Shakespeare & Company“ von den letzten Deutschen säubert.
Aber nun – nach Widervereinigung und World-Trade-Center-Attentat – wurden die Karten neu gemischt. Nicht nur sind die Menschen inzwischen derart wölfisch geworden, dass sie ihre Kinder in der Wildnis aussetzen, wo sie statt von den Wölfen gefressen von diesen liebevoll aufgezogen werden, wie die Bild-Zeitung gerade aus den rumänischen Karpaten berichtete. Wir haben es also mit einer Umdrehung der alten Geschichte von der Zähmung und Abrichtung junger Wölfe zu Hunden zu tun.
Ähnliches passierte auch mit der ehemaligen Preußenschanze Potsdam, wo gerade ein Politikberatungszentrum zum Wieder-Wölfisch-Werden eröffnet wurde: das „Institut für Sicherheits- und Militärpolitik“. Zu seinen Leitwölfen zählt unter anderem der internationale Kriegsverbrecher Henry Kissinger, die Managerin des Rüstungskonzerns British Aerospace, Margarita Mathiopoulos, Brandenburgs Generalinnenminister Schönbohm und der reaktionäre Historiker Michael Stürmer. Auf dem Eröffnungsball tanzte außerdem der revanchistische Historiker Arnulf Baring an. Dieser hatte bereits gleich nach der Wende – gegenüber dem Preußenpropagandisten Wolf (sic) Jobst Siedler – von einer neuen „Ostkolonialisation“ gesprochen, „obwohl man das öffentlich fast (noch) nicht sagen kann – aber die osteuropäischen Staaten erwarten das von Deutschland!“ Erwarten ist gut – tatsächlich geht es jetzt aber um „Neue Anti-Terror-Strategien“. Im Klartext: Weil der Maquis, das Partisanentum, einst besonders in Osteuropa – zwischen Weißrussland und Jugoslawien – den Deutschen zu schaffen machte, muss man jetzt ein solches „Potsdam-Center“ als ein „Zeichen der Normalisierung in den Beziehungen Deutschlands zur Welt“ sehen, wie der Institutsleiter Görtemaker sich ausdrückte.
Dazu haben sich neben dem Institut noch das „zentrale Einsatzkommando für Auslandseinsätze der Bundeswehr“ von Mazedonien bis Afghanistan, das „Militärgeschichtliche Forschungsamt“, ein „Lehrstuhl für Militärgeschichte“ an der Uni sowie etliche Bundeswehr-Elitestäbe und Feldjägereinheiten angesiedelt, ferner der seit 1918 als besonders reaktionär geltende Grenzschutz. Nicht zu vergessen, jede Menge alte Adlige und neue Promis aus Mode und Moderation. Ein ganzer Thinktank also. Schönbohm versprach bei der Eröffnung außerdem noch die Ansiedlung des „EU-Kollegs für Sicherheit“ sowie der „Bundessicherheitsakademie“ in Potsdam. Der Nato-Generalsekretär, laut Bild „einer der meistgefährdetsten Politiker der Welt“, war von seinen Lieblings-Bodyguards umringt und sagte nichts. Dafür fand jedoch der Sicherheitsberater des US-Präsidenten, William Schneider Jr., die richtigen Worte, als er Potsdam „das Zentrum eines großen Teils der deutschen Geschichte“ nannte – womit er nicht die Vergangenheit aus-, sondern die Zukunft andeutete.
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