: Luxus für alle
Paradoxer VW Scirocco: Der Theaterregisseur Janec Müller möchte die Neunzigerjahre der DDR in Anlehnung an die Achtzigerjahre der BRD erklären – „Product Placement“ am Theaterhaus Weimar
von CHRISTIANE KÜHL
Was unbedingt einmal geschrieben werden muss, ist eine Kulturgeschichte dieser Glitzergirlanden, die sich über Parkplätzen flatternd weltweit als Zeichen für „Auto An- und Verkauf“ durchgesetzt haben. Wie ist das geschehen? Wann? Wo hingen die ersten, wie erfolgte die Ausbreitung? Ein sehr interessantes Thema, dessen Aufarbeitung jedoch warten muss, denn heute geht es um den Scirocco II. Einen weißen VW Scirocco GT, Baujahr 1985, Kilometerstand 43.757, der im Straßenbahndepot Weimar umrahmt von blau-weißen Glitzergirlanden steht. Was bedeutet: Er soll verkauft werden.
Was bedeutet das: ein Auto zu kaufen? Lebensraumerweiterung, Mobilitätsteigerung, Imagegewinn. Der Käufer darf sich nach Erwerb des Wagens mit Fug und Recht einen neuen Menschen nennen. Woran der Kommunismus über Jahrzehnte vergeblich gearbeitet hat, gelingt dem Kapitalismus hier sozusagen als Abfallprodukt. Großartig. Und ist noch gar nicht alles: Inmitten blühender Einkaufszentren und Doppelhaushälften, so hat man es am Theaterhaus Weimar beobachtet, vollzieht sich nun auch im Osten die „deutsche Heimaterfindung im Erlebniskonsum“. Dies ist dein Land.
„Product Placement“, der erste Teil des als Trilogie angelegten Scirocco-Projekts von Janec Müller/Theaterhaus Weimar, ist laut Eintrittskarte „ein Video- und Vortragsevent über das Gesetz von Angebot und Nachfrage, über Zeitverschiebung und Konsumverwirrung“. Der Scirocco wurde zum Angelpunkt der Produktionsreihe, da er, so Müller, als knapp 300.000-mal verkaufter „Sportwagen fürs Volk“ in den Achtzigerjahren in Westdeutschland so etwas wie „Luxus für alle“ symbolisierte. Ein paradoxes Streben, das auch die Neunzigerjahre in Ostdeutschland bestimmte. Müllers These, dass entsprechend die Ost-Neunziger in den Kategorien der West-Achtziger zu fassen wären, ist jedoch schon deshalb gewagt, weil er von Letzteren kaum Ahnung hat: Der heute 28-Jährige wuchs im thüringischen Bad Frankenhausen auf. Vater Offizier, Mutter Lehrerin, Janec junger Pionier mit Anwärterschaft auf Diplomatenstudium in Moskau. Vom Westen kannte er nach eigenen Angaben nicht mehr als Lux-Seife und Zauberwürfel.
Nun ist aber das Schöne am Theaterhaus Weimar (das – anders, als der Name suggeriert – eine freie Gruppe ist), dass dort nicht nur eine Menge Theorie produziert wird, sondern auch Aufführungen, die diese Theorien vergessen machen. „Product Placement“, das am Donnerstag uraufgeführt wurde, beginnt mit einem ganz wundersamen Video. Das Publikum nimmt zwischen den blau-weißen Glittergirlanden auf jenen weißen Plastiksesseln Platz, die ebenfalls die Welt erobert haben, blickt auf den blitzblanken Scirocco und auf eine Leinwand darüber, die den Scirocco zeigt.
In durchgehend unscharfen Nahaufnahmen wird nun die Geschichte des versuchten Verkaufs dieses Autos bei gleichzeitiger Behauptung einer Zeitreise erzählt. Dabei bleibt der Wagen absolut unbeweglich; allein die Kamera wechselt die Positionen, umkreist das Auto, das offensichtlich hier auf der dunklen Bühne gefilmt wurde. Die zwei Schauspieler sind meist überbelichtet, sodass ihre Konturen ausgeblendet sind. Sie sprechen wenig, blicken viel, lachen unsicher, manchmal schreit einer. Lange Einstellungen zeigen sie einfach in Relation zum Objekt. Holprige Schnitte lassen die Zeit immer wieder um Sekunden zurückspringen. Auf der Tonspur wird ab und an eine wenig befahrene Landstraße suggeriert, dann fehlt plötzlich jede Atmo, und alle scheinen aus der Zeit gefallen zu sein. Das wirkt wie eine kinountaugliche Version von „Stranger Than Paradise“, die langsam in einen Psychothriller umkippt. Zur Testfahrt wird der Ton aufgefahren, die Kamera geschüttelt; dann fliegen die Darsteller gegen die Windschutzscheibe, und wir sehen blutige Nasen. Natürlich ist dieser mit simpelsten Mitteln behauptete Horror komisch, aber es gelingt dem Film, parallel ein Gefühl von strangeness zu transportieren. Am Ende sprengt der im Grunde verkaufsunwillige Verkäufer den Wagen samt der jungen Käuferin, die sich schon beim ersten Kontakt mit dem Auto in einer Achtzigerjahre-Zeitfalle fühlte, mit schönen Comic-Flacker-Effekten in die Luft.
Das dem Video folgende „Vortragsevent“ ist leider nicht so überzeugend. Susann Hempel und Olaf Helbig variieren mit Skript vorm Mikro Textbausteine über Verkaufsstrategien und personalisierte Aufmerksamkeitssysteme. Das will in seiner soziologischen Wucht und Masse René Pollesch persiflieren, doch ist es verdammt schwer, etwas Gutes zu persiflieren, wenn man nicht besser ist.
Der nächste Teil des Projekts, „Sozialraum 2209“, wird beim Festival Theater der Welt in Düsseldorf gezeigt werden. Dort nistet sich die Gruppe eine Woche lang im Industriegebiet ein. Abends kommen Gäste, denen per Video gezeigt wird, was man tagsüber entdeckte: zum Beispiel, dass man mit so einem Scirocco auch fahren kann. In echt.
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